Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
tragische Weise offenbaren sollte.
Die Autorin und ihre Schwester Kathy, herausgeputzt zum Verteilen von Blumen
So fasziniert mein Vater von seinen Reisen auch war, hatte er doch auch Grund zur Enttäuschung. Viele Freunde, die er vor dem Krieg gekannt hatte, zögerten, die Bekanntschaft fortzuführen, weil unter Tito der Kontakt zu einer suspekten, ausländischen Botschaft ein Grund für eine Verhaftung war. Schon die harmloseste Interaktion konnte einen in Schwierigkeiten bringen. Die französische Botschafterin beispielsweise, die einen Hund besaß, trieb über Erkundigungen eine jugoslawische Familie auf, die einen Hund der gleichen Rasse und anderen Geschlechts hatte. Es wurde ein Besuch zur Paarung vereinbart. Nach diesem Treffen fiel die Polizei über die fragliche Familie her und verhörte das Oberhaupt tagelang.
Die veränderte Stimmung ließ jede Spontaneität in den Unterhaltungen verschwinden; die Leute plapperten entweder die Parteilinie nach oder beschränkten sich auf Höflichkeitsfloskeln. Einmal teilte ein Freund meinem Vater mit, dass er aufgehört habe, uns zu besuchen, weil man ihn angewiesen habe, uns auszuspionieren, was er aber abgelehnt habe. Andere Bekannte wie die Familie Ribnikar, die uns recht nahe gestanden hatten, waren jetzt bei Titos Partisanen,
ob aus Überzeugung oder Überlebensinstinkt vermochten meine Eltern nicht zu sagen. Als Folge konnte mein Vater seine Gedanken zu den interessantesten und drängendsten Fragen nur mit anderen Mitgliedern des diplomatischen Korps oder mit den wenigen Jugoslawen austauschen, die sich nicht darum scherten, was irgendjemand sah oder hörte.
Am Anfang seiner Amtszeit wohnte mein Vater einer Sitzung des jugoslawischen Parlaments bei, auf der Tito der Hauptredner war. Statt lediglich höflich aufzustehen, als der Diktator den Saal betrat, klatschte der sowjetische Botschafter an mehreren Stellen während der ganzen Rede begeistert mit. Seinem Beispiel folgten prompt die Vertreter aus den kommunistisch kontrollierten Ländern Polen, Ungarn und Rumänien. Das war der Beginn dessen, was der Kalte Krieg hervorbringen sollte: eine traurige Versammlung willfähriger Satellitenstaaten, deren Vertreter einmütig jedes Mal Beifall klatschten, wenn die richtigen rhetorischen Knöpfe gedrückt wurden, etwa ein Angriff auf die bourgeoisen Kapitalisten oder eine Beschwerde über den westlichen Imperialismus. Mein Vater weigerte sich, bei diesem schon damals abgedroschenen Spielchen mitzumachen. Er wies sein Botschaftspersonal an, dass sie bei der Teilnahme an feierlichen Anlässen Tito bei der Ankunft höflich applaudieren durften, sich seine Reden aber schweigend anhören sollten.
Dieser Versuch, eine professionelle Arbeitsweise über die Politik zu stellen, ärgerte den Anwalt der Botschaft, einen Kommunisten, der anfing, in Prag Unruhe zu stiften. Er musste jedoch feststellen, dass der Botschafter kein leichter Gegner war. Nach einigen Erkundigungen entdeckte mein Vater Beweise, dass der Rechtsberater auf dem Schwarzmarkt Devisen geschmuggelt hatte. Weil das verboten war, wurde der Übeltäter sofort entlassen. Allerdings bedeutete das nicht den endgültigen Sieg. Das Außenministerium schickte schon bald einen Nachfolger, der seine Zeit damit verbrachte, jeden angeblich illoyalen Kommentar zu melden, der ihm zu Ohren kam. Das könnte einen Eintrag in den Akten der Geheimpolizei erklären, der mir im Jahr 2011 gezeigt wurde. Dort beklagte man sich, dass mein Vater »kein Kommunist« sei, sondern ein Beneš-Anhänger, der kaum etwas unternommen habe, »um die Gunst führender jugoslawischer
Regierungsvertreter zu erlangen«. 30 Überdies gehörte dem Botschaftspersonal auch Gottwalds Tochter Marta an, höchstwahrscheinlich ein direkter Kanal zu ihrem Vater und – da sie mit einem jugoslawischen Diplomaten verheiratet war – womöglich auch zu Tito. In Anbetracht des Misstrauens, das meinem Vater entgegenschlug, ist es geradezu ein Wunder, dass er sich so lange hielt, denn er ergriff jede Gelegenheit, mit den britischen und amerikanischen Botschaften Informationen auszutauschen – dabei gab er nichts preis, was seinem Land geschadet hätte, aber alles, was der demokratischen Sache dienlich sein konnte.
Um mich gegen die vergiftete Politik in Jugoslawien abzuschirmen, hatten meine Eltern Blanka, eine 20-jährige tschechische Hauslehrerin, gebeten, bei uns in Belgrad zu leben. Sie übernahm meinen Schulunterricht und half mir auch, mich um meine
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