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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Schwester Kathy zu kümmern. Die gesamte Grammatik, die ich von meiner Muttersprache kenne, habe ich im Alter von acht bis zehn Jahren gelernt. Einmal mehr taten meine Eltern alles, um das Leben, so wechselhaft es war, möglichst normal erscheinen zu lassen. Das Büro meines Vaters war über einen Durchgang im zweiten Stock mit der Wohnung verbunden. Wenn er nicht beschäftigt war, aß er mit uns zu Mittag, und am Nachmittag fuhren wir in unserem schwarzen Tatra aufs Land, einem tschechoslowakischen Wagen mit Haifischflossen am Heck, der ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Batmobil hatte. Bei schönem Wetter machten wir Spaziergänge in den Wäldern oder hielten am Berg Avala an, wo wir die Stufen zu dem riesigen Denkmal des unbekannten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg hinaufstiegen.
    Manchmal lud mein Vater jugoslawische Regierungsvertreter oder Journalisten ein, uns zu begleiten. Heute vermute ich, dass er das tat, weil Gespräche im Freien aller Wahrscheinlichkeit nach nicht belauscht wurden. Es kann durchaus sein, dass die Jugoslawen, die so mutig waren mitzukommen, ohnehin nicht damit rechneten, dass sie lange lebten. Das waren die skrupellosesten Fahrer, die ich jemals erlebt habe. Mein Vater machte sich Sorgen, weil die tschechoslowakische Regierung Tito einen Tatra geschenkt hatte. Der alte Mann hatte das Fahrzeug seinem Sohn übergeben, der wie ein
Wahnsinniger fuhr, obwohl er im Krieg einen Arm verloren hatte. »Einmal angenommen, es passiert ein Unfall«, sagte mein Vater. »Wem wird Tito wohl die Schuld geben, dem Fahrer oder dem Autor?«
     
    I n einer Hinsicht hielt Stalin Wort: Sowjetische Truppen blieben nicht als Besatzungsmacht in der Tschechoslowakei. Die US-Botschaft half bei der Aushandlung eines beiderseitigen Truppenabzugs, so dass amerikanische und sowjetische Soldaten bis Ende 1945 abzogen – wobei die Russen so viel Schmuck, Porzellan, Ackergeräte, Teppiche, Armaturen, Spielsachen, Musikinstrumente, Matratzen und andere Beutestücke mitnahmen, wie sie tragen konnten. Der Abzug der Roten Armee bedeutete jedoch keineswegs ein Ende des sowjetischen Einflusses. Bei öffentlichen Veranstaltungen hingen ebenso viele Porträts von Stalin wie von Beneš. Gottwald und seine Genossen sprachen unablässig davon, wie tief das Land bei Moskau in der Schuld stehe, und behaupteten, dass die Sowjetunion ein wichtiger Handelspartner sei. Immerhin verkaufte sie uns Getreide, kaufte Rüstungsgüter und tauschte eine lange Liste anderer Waren aus.
    Insgeheim interessierte die Sowjets aber noch etwas ganz anderes an der Tschechoslowakei: die damals wohl begehrteste Substanz auf der ganzen Erdkugel. Als im August 1945 die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki die Welt für immer veränderten, gab es nur drei Quellen für Uran: Kanada, Belgisch-Kongo und die Jáchymov-Mine in Böhmen. Zu den ersten beiden hatten die Russen keinen Zugang; folglich waren sie an einer besonderen Beziehung zu Prag brennend interessiert. Einige Jahrzehnte zuvor hatte Marie Curie Rückstände aus der Uranmine von Jáchymov verwendet, um Radium zu medizinischen Zwecken herzustellen, und Glashersteller hatten sie für eine Gelbfärbung benutzt. Mit dem Anbrechen des Atomzeitalters wurde das Uran an sich zum Wertobjekt.
    Stalin wollte eine garantierte Lieferung, und er bekam sie auch. Seine ohnehin günstige Verhandlungsposition wurde durch die eifrige Kooperation des Regierungschefs Fierlinger noch begünstigt. Lange vor Aufnahme offizieller Verhandlungen wurde es sowjetischen Sicherheitsbeamten gestattet, die Minen zu inspizieren, Proben
zu entnehmen und Soldaten zur Bewachung des Geländes aufzustellen. Unter Umgehung des tschechoslowakischen Außenministeriums arbeitete Fierlinger direkt mit Moskau zusammen. Am 7. Oktober, einem Sonntag, begab er sich durch den Garten seines Landsitzes zu dem seines Nachbarn, nämlich Präsident Beneš’, zu einem vertraulichen Gespräch. Er erklärte ihm den sowjetischen Wunsch nach Uran und ließ durchblicken, dass ein Pakt mit den entsprechenden Bedingungen dem Land Stalins Unterstützung in anderen Angelegenheiten, zum Beispiel bei der Erschließung von Ölfeldern in der Slowakei und der Klärung kleinerer Grenzstreitigkeiten mit Polen und Österreich, sichern werde. Der Präsident bestand darauf, dass die Tschechoslowaken einen Anteil des Urans selbst behielten (man einigte sich auf »bis zu zehn Prozent«), hatte aber keine generellen Einwände, weder gegen das vorgeschlagene Abkommen noch

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