Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
wäre, hätte die Wehrmacht Truppen aus dem Süden (über Österreich) und Osten (über Mähren) heranführen können. Die Panzerabwehrwaffen und Artillerie der Tschechoslowakei waren überfordert, und der Kern der gut ausgebildeten Soldaten nicht groß genug, um endlos standzuhalten. Das Militär selbst ging vor dem Krieg von drei Wochen aus. Während der Kriegshandlungen wäre der deutsche Propagandaapparat auf Hochtouren gelaufen und hätte den Kampf zu einem Ringen um Selbstbestimmung für die Sudetendeutschen hochstilisiert – ein Grundprinzip, das die Briten und Franzosen bereits gebilligt hatten und das selbst die Tschechen und Slowaken widerwillig akzeptierten. Die Polen und Ungarn hätten sich vermutlich am anderen Ende an den Kämpfen beteiligt und versucht, ihrem streitbaren Nachbarn so viel Territorium wie möglich abzunehmen. Viele, oder gar fast alle, Sudetendeutsche hätten eine fünfte Kolonne für den Gegner gebildet.
In seinen Memoiren schreibt Churchill: »Ich war immer der Ansicht, dass Beneš’ Nachgeben ein Fehler war. … Hätte der Kampf einmal begonnen, so wäre Frankreich, meiner damaligen Meinung nach, in einer Welle nationaler Leidenschaft zu Hilfe geeilt, und England hätte sich fast augenblicklich Frankreich angeschlossen.« 99 Bei allem Respekt, die Vorstellung, dass die Franzosen bereitwillig in den Krieg gezogen wären, scheint ein Wunschtraum. Sie hatten anno 1936 nichts unternommen, als Deutschland das Rheinland besetzt hatte, und sie sollten 1939 ebenfalls kaum etwas tun, als Hitler in Polen einmarschierte. Überdies hatten sie Beneš ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass sie ihn im Stich lassen würden, falls er das Ultimatum von München ablehnte. Gewiss hätte möglicherweise der Völkerbund hektisch etliche Male über die Frage beraten, und vermutlich hätte man die Kriegsparteien unzählige Male zu einem Waffenstillstand aufgerufen, aber früher oder später hätten die Deutschen das Land vom einen Ende bis zum anderen besetzt.
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Hitler im Sudetenland, 3. Oktober 1938; zu seiner Linken Konrad Henlein, rechts von Henlein sitzt Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht
Unterdessen wäre allerdings das Reich selbst erheblich geschwächt worden, vor allem wenn die tschechoslowakischen Streitkräfte daran gedacht hätten, die eigenen Panzer, Flugzeuge und Fabriken zu zerstören, statt sie den deutschen Truppen zu überlassen. Ein derartiger Ausgang wäre ein tragisches Geschenk seitens der Tschechoslowakei an Europa gewesen – ein Angebot, das dem Land wenige gedankt hätten. Zehntausende Soldaten und Piloten wären gefallen oder in Gefangenschaft geraten, eventuell auch mein Vater. Die Infrastruktur des Landes wäre massiv beschädigt worden. Die
Nationalsozialisten, die über die trotzige Haltung Prags empört gewesen wären, hätten nach ihrem Sieg mit Sicherheit im Land gewütet. Sobald man das deutsche Joch abgeworfen hätte, hätten tschechoslowakische Geschichtenerzähler eine neue Generation tragischer, aber heldenhafter Geschichten erzählen können. Das Land hätte unermessliches Leid ertragen müssen, aber seine Moral wäre unbefleckt geblieben.
Beneš rechtfertigte seine Entscheidung, die Bedingungen des Münchner Abkommens zu akzeptieren, als die beste Option aus einer sehr begrenzten Auswahl schlechter Alternativen. Ein großer europäischer Krieg sei unvermeidlich gewesen, beharrte er, und damit auch die Niederlage Deutschlands. Indem die Tschechen und Slowaken nicht 1938 kämpften, als die Chancen so schlecht für sie standen, hätten sie sich die Fähigkeit bewahrt, zu einem günstigeren Zeitpunkt zu kämpfen. Zu dieser Einschätzung gelangte auch George Kennan, der amerikanische politische Attaché in Prag. Er zog folgendes Fazit:
Für die schweren Aufgaben der Zukunft ist eine großartige junge Generation erhalten geblieben – diszipliniert, fleißig, gesund –, die zweifellos geopfert worden wäre, hätte man sich für die romantische Lösung des aussichtslosen Widerstands entschieden statt für die demütigende, aber eigentlich heroische des Realismus. 100
Mir persönlich fällt es ebenso schwer, Kennans Vorstellung einer heldenhaften Demütigung zu verstehen, wie Cadogans Plädoyer für couragierte Feigheit. Meiner Ansicht nach hätte Beneš die Bedingungen des Münchner Abkommens ablehnen müssen, aber ich kann ihn umgekehrt auch schwerlich dafür verurteilen, dass er dem Diktat seiner eigenen Logik folgte, statt den
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