Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
austauschten. Das neue Bild war das eines Pöbels mit braunen Hemden, der die Schaufenster von Banken und Geschäften einschlug und dazu laut »Juda verrecke!« grölte. In den Augen außenpolitischer Beobachter war Hitler eine lästige Plage, welche die Wirtschaftskrise hervorgebracht hatte. Und jetzt machte er eben lautstark seinem Ärger über den Versailler Vertrag Luft. Der Vertrag hatte Deutschland gigantische Reparationszahlungen auferlegt, die das Land niemals bezahlen konnte und die auch nie vollständig eingezogen wurden. Die Rückstände verärgerten die Alliierten, die Strafzahlungen ermahnten umgekehrt die Deutschen ständig an ihre Demütigung.
Nach dem Krieg hatten die Franzosen darauf bestanden, dass die deutsche Staatsmacht am Rhein aufhörte. Sie glaubten, der Strom werde zu einem Wall, hinter dem sie ihre Befestigungsanlagen ausbauen konnten. Das deutsche Gebiet, das westlich des Rheins lag, das sogenannte Rheinland, sollte entmilitarisiert und einer internationalen Aufsicht unterstellt werden. Im März 1936 befahl Hitler seiner Armee kurzerhand, das Gebiet zu besetzen. Die Franzosen wären damals stark genug gewesen, um die Deutschen zurückzudrängen, und hätten nach dem Friedensvertrag auch das Recht dazu gehabt. Stattdessen berieten sie sich mit den Briten, die ihnen nachgaben: Es wurden scharfe Stellungnahmen abgegeben, und nichts geschah. Das Rheinland war, so schien es, ein kleiner Preis für den Frieden. Die Nationalsozialisten fingen jedoch wenig später an, die neue Front zu befestigen – die näher bei Frankreich und weiter von Berlin entfernt war. Eine deutsche Invasion in Frankreich, die bislang undenkbar gewesen wäre, rückte nunmehr in den Bereich des Möglichen. So billig war der Frieden künftig nicht mehr zu haben.
8
EINE ZUM SCHEITERN VERURTEILTE AUFGABE
D ie Saga von München wurde auf einer globalen Bühne von einer Handvoll der mächtigsten Männer der Welt aufgeführt. Das düstere Finale war nur der Beginn unzähliger anderer Geschichten, die sich um das Leben zahlloser Männer und Frauen drehten, unsere Familie mittendrin. Meine Mutter erinnerte sich:
Natürlich unsere persönliche Sicherheit betroffen war davon unmittelbar. Zuerst Jožka musste, als Reserveoffizier der tschechoslowakischen Armee, in Mobilisierungszeit zu seinem Regiment zurück, und ich war mit einjähriges Kind in Jugoslawien mich überlassen und wartete, dass anfängt Krieg. Zum Glück für mich persönlich, aber zum Unglück für Land, dem beide wir so treu waren, Tschechoslowakei wurde von England und Frankreich befohlen, nachzugeben Hitlers Forderung, und so damals wurde nicht Krieg erklärt. 96
Die Ereignisse um München hatten auf die Tschechen und Slowaken einen tiefen und schmerzlichen Einfluss, insbesondere auf die Generation meiner Eltern. Eine peinliche Schmach, weil es nicht zum Kampf gekommen war, mischte sich mit einer Wut auf die Alliierten wegen des angeblichen Verrats. Schmach und Wut schwelten vor sich hin.
Im Jahr 1976 gab mein Vater Frankreich und Großbritannien die Hauptschuld, beklagte aber auch, dass »die Tschechoslowakei in der Stunde der Krise keinen Führer als Präsidenten hatte, sondern einen Unterhändler«. 97 Er erkannte an, dass ein großer Teil von dem, was Beneš vorausgesagt hatte, auch eintraf, meinte aber, dass »das heldenhafte Ethos der Nation von seinen Staatsoberhäuptern die moralische, nicht die pragmatische Haltung gefordert hätte. Das Diktat
von München hätte zurückgewiesen werden müssen, völlig unabhängig von den Konsequenzen.« 98
Bei geschichtlichen Forschungen stellt sich immer wieder die Frage »Was wäre wenn«. Was wäre passiert, wenn Beneš – wie mein Vater und viele andere es gewünscht hätten – beschlossen hätte, das Diktat von München abzulehnen? Vermutlich hätten die tschechoslowakischen Streitkräfte alleine kämpfen müssen, zumindest anfangs. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie tapfer gekämpft hätten, weil sie die nötige Führung, Motivation, Ausrüstung, Stärke und Ausbildung hatten, um den Gegner empfindlich bluten zu lassen. Vor allem in dem Regen und Nebel, die in jenen ersten Wochen des Oktobers herrschten, wäre das kein Blitzkrieg gewesen. Die Verteidiger wären in ihren Stellungen schlecht auszumachen gewesen. Aber hätte die überlegene Feuerkraft des Deutschen Reiches am Ende den Sieg davongetragen? So gut wie sicher.
Selbst wenn die deutsche Hauptoffensive durch Böhmen gestoppt worden
Weitere Kostenlose Bücher