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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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einem schlicht möblierten Raum, umgeben von seiner Bibliothek, ein Strauß Rosen auf dem Kaminsims.« Auf dem Schreibtisch standen zwei Bücher wie zum Duell: Johann Wolfgang von Goethes Faust und Adolf Hitlers Mein Kampf . 27
     
    A ls mein Vater in das tschechoslowakische Außenministerium eintrat, war es nicht der wuchernde bürokratische Apparat, den der eine oder andere sich womöglich darunter vorstellt. Es bestand vielmehr aus einem kleinen Kader von Beamten, die als Botschafter in anderen Ländern dienten, sowie rund hundert Angestellten zu ihrer Unterstützung. Das Budget war alles andere als üppig. Es vergingen etliche Monate, bis mein Vater sein erstes Gehalt bekam. Der unumstrittene Führer und Chefstratege des Ganzen war Edvard Beneš, Masaryks engster Berater und Außenminister seit Gründung der Republik.
    Der 1884 geborene Beneš war das zehnte und jüngste Kind einer Bauernfamilie mit Wurzeln im nordwestlichen Winkel Böhmens. Der von Anfang an vom Nationalismus durchdrungene, frühreife Halbstarke schrieb eine Ode an Hus, während er noch Kniehosen trug und sich häufig mit deutschen Kindern prügelte. Er war auch ein systematischer und ehrgeiziger Denker. Mit zehn war er noch Ministrant, mit zwölf aber bereits Agnostiker. Im nächsten Jahr rauchte er seine letzte Zigarette, ein Jahr später schwor er dem Alkohol ab. Mit sechzehn war er »fasziniert vom Radikalismus und Sozialismus und feierte den Ersten Mai mit einer roten Rose im Knopfloch«. 28 Mit achtzehn wechselte er von der radikalen Ideologie zur Suche nach der Wahrheit mit Hilfe der Wissenschaft. Im Alter von 21 Jahren schwor er, sich auf eine politische Karriere vorzubereiten, und bewarb sich zu diesem Zweck an drei Universitäten gleichzeitig um einen Platz. Während seines Studiums in Paris lernte er Anna Vlcková kennen, die Tochter eines tschechischen Eisenbahnbeamten,
und blieb in Kontakt mit ihr. Über einen Freund erfuhr er, dass sich die junge Frau in ihn verliebt hatte, eine beängstigende Aussicht, überdies äußerst unpraktisch. Am nächsten Tag lud er sie zu einem Spaziergang ein und erklärte ihr, dass sie sich trennen sollten, weil eine Fortsetzung der Liebesbeziehung seiner Karriere im Wege stehe. Sie stimmte ihm zu. Er fuhr nach London, sie nach Prag, aber am Ende siegte doch die Liebe. Vier Jahre später ließen sich Edvard und Anna (inzwischen Hana h ) auf das Abenteuer der Ehe ein, das ungeachtet etlicher Unruhen in ihrem Umfeld für den Rest ihres Lebens Bestand haben sollte.
    An der Universität fiel Beneš Charlotte Masaryk ins Auge, die ihren Mann überredete, den unermüdlichen Studenten als Deutsch-Tschechisch-Übersetzer einzusetzen. Der junge Mann besuchte die Vorlesungen Masaryks und wurde rasch ein Schüler von ihm. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, vereinbarten die beiden zusammenzuarbeiten. Auch wenn Beneš nicht gerade eine beeindruckende Statur hatte, war er als Schuljunge ein begabter Fußballspieler gewesen und auf keinen Fall ein Feigling. Während des gesamten Krieges reiste er mit dem Zug von einer Hauptstadt zur nächsten, leitete Botschaften an Agenten des tschechischen Untergrunds weiter und transportierte Code-Bücher in Koffern mit doppeltem Boden. Das war kein Spaß. Wenn man ihn erwischt hätte, wäre er gehängt oder erschossen worden. Ironischerweise wurde Beneš drei Mal von den Briten und zwei Mal von den Franzosen unter dem Verdacht der Spionage verhaftet – allerdings nicht für die Tschechen, sondern für Österreich.
    Unter seinen diplomatischen Kollegen war Masaryks Schützling bekannt für seine Intelligenz, sein strategisches Denken, das Fehlen jeglichen Humors und seinen Eifer bei der Diskussion selbst belangloser Angelegenheiten. Überdies verfügte er über Organisationstalent und war unbestechlich. Auf der Pariser Friedenskonferenz trat ein langjähriger Freund an ihn heran und schlug ihm vor, einen
besonderen Fonds einzurichten, aus dem sich der Außenminister jederzeit diskret bedienen konnte. Eine derartige Praxis wäre, auch wenn sie moralisch fragwürdig war, keineswegs ungewöhnlich gewesen. Beneš ließ sich die Zimmernummer seines Freundes geben und ihn prompt verhaften.
    Beim Entwurf der Außenpolitik seines Landes fügte sich Beneš zunächst in das Unvermeidliche: Weil die Tschechoslowakei klein und folglich auf die Hilfe anderer angewiesen war, konnte das Land nur in einem regionalen Frieden aufblühen. Deshalb knüpfte er ein Netz von Bündnissen, angefangen

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