Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
mit der Kleinen Entente, einer Partnerschaft mit Jugoslawien und Rumänien zum Schutz gegen Ungarn. Bei der Suche nach mächtigeren Freunden wandte er sich nach Westen und schloss im Jahr 1925 einen gegenseitigen Beistandspakt mit Frankreich. Zehn Jahre danach schloss er zum Ausgleich ein vergleichbares, aber begrenzteres Abkommen mit der Sowjetunion. Nach dieser Vereinbarung waren die Tschechoslowakei und die Sowjetunion nur dann verpflichtet, einander im Fall eines Angriffs beizustehen, wenn Frankreich bereit war, an ihrer Seite zu kämpfen. Das klingt kompliziert, war aber in den Augen Beneš’ durchaus vernünftig, weil er sein Land auf keinen Fall in einen Krieg zwischen Deutschland und Russland hineinziehen wollte.
Der Vertrag von 1935 mit Moskau sollte sich zwar als wirkungsloser als erhofft erweisen, aber Beneš selbst hielt diese Verhandlungen für einen Höhepunkt seiner Karriere, nicht zuletzt wegen des herzlichen Empfangs für ihn in der sowjetischen Hauptstadt. Am Bahnhof hatte man den roten Teppich ausgerollt und weit mehr Fahnen aufgehängt als bei früheren Staatsbesuchen von Würdenträgern aus Großbritannien und Frankreich. Beneš kam in den Genuss einer vollständigen Tour zu russischen Kostbarkeiten, samt Oper, neu eröffneter Metro und Lenin-Mausoleum. Beim Abschiedsbankett musste er etliche Versuche abwehren, ihn zum Trinken zu verleiten, ein Beweis der Selbstdisziplin, mit dem sich Kliment Woroschilow, der Volkskommissar für Verteidigung, nicht messen konnte. Woroschilow versicherte Beneš, dass sein Land im Fall eines deutschen Angriffs zurückschlagen, genauer »den Feind in Stücke reißen« werde, wie er sagte. Er versprach außerdem, dass die Sowjetunion
die Tschechoslowaken nicht im Stich lassen würde. Auf dieses Versprechen antwortete Beneš mit der Frage: »Aber wie wollen Sie das bewerkstelligen? Immerhin sind unsere Länder nicht benachbart. Würden Sie wirklich das Territorium anderer Staaten durchqueren, um uns zu Hilfe zu kommen?« »Natürlich«, gab Woroschilow zurück. »Das halten wir für selbstverständlich.« 29
A ls mein Vater seinerzeit zusammen mit der ganzen vierten Klasse eine Linde zu Ehren der neuen Republik gepflanzt hatte, hatte sein Lehrer vorausgesagt, dass der Baum hoch und stark werde – »imstande, allen Stürmen zu trotzen«. Zu Beginn der dreißiger Jahre, als die neue Republik etliche Stürme zu überstehen hatte, wurde diese Prophezeiung einem Härtetest unterzogen. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verloren Hunderttausende Arbeiter ihre Stelle, bis 1933 war jeder Sechste arbeitslos. Die exportabhängigen Industriezweige im überwiegend deutschen Sudetenland, insbesondere in der Textilbranche traf es mit am härtesten. Auf einmal hatte es den Anschein, als würden Geschicklichkeit und Disziplin nicht ausreichen. Eine gute Arbeitsmoral nützte wenig, wenn es zu wenig Arbeit gab. Diese wirtschaftlichen Enttäuschungen schürten den Unmut. In der Nachbarschaft der Tschechoslowakei stellte dies eine große Gefahr dar.
Am 30. Januar 1933 stieg Adolf Hitler die Stufen zum Präsidentenpalast in Berlin hinauf, damit Präsident Paul von Hindenburg ihm förmlich das Amt des deutschen Kanzlers antrug. Wohl kaum ein Machtwechsel war so eindeutig mit einem Wechsel von einer Generation zur nächsten verbunden. Der gebrechliche Hindenburg hatte seine Militärlaufbahn in einer früheren Epoche begonnen – im deutsch-österreichischen Krieg von 1866. Er war der Fahnenträger der deutschen Militärtradition und hatte nur wenige Monate zuvor eine Berufung des 43-jährigen Hitler noch verächtlich abgewiesen. Dem Vernehmen nach entgegnete er spöttisch auf ein derartiges Ansinnen: »Hitler Reichskanzler? Höchstens Postminister; da kann er mich dann – auf den Briefmarken hinten …« 30
Der in Österreich geborene Vorsitzende der NSDAP setzte sich dennoch durch, und von dem Augenblick an, in dem er das Amt
antrat, wurden der Aufstieg des deutschen Militärs und der moralische Verfall des Landes zum zentralen Thema für ganz Europa. Verblüffend reibungslos machte er aus einer mehr schlecht als recht funktionierenden Demokratie eine straff organisierte Militärdiktatur, mit einem rasant expandierenden Militärbudget und einer aggressiven Außenpolitik. Auf der Friedenskonferenz am Ende des Ersten Weltkrieges hatte in der Weltpolitik das Bild alter Herren mit gestärkten Kragen vorgeherrscht, die in stuckverzierten Sälen höflich ihre Meinungen
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