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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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stehe ein Zweifrontenkrieg bevor, falls sie zuerst zuschlagen sollten. Die Sowjets forderten die Briten und Franzosen auf, ihre Strategien zu koordinieren, einen Appell,
dem niemand Folge leistete. Als sich die Krise dem Höhepunkt näherte, erklärten die Russen, sie hätten 30 Infanteriedivisionen, verstärkt durch Reservisten, in der Nähe der westlichen Grenze stehen. Gegenüber Polen ließen sie durchblicken, dass sie im Fall einer deutschen Aggression bereit wären, der Tschechoslowakei zu Hilfe zu eilen, ob nun mit Erlaubnis aus Warschau oder nicht. Am Ende war Moskau imstande, sein Wort zu halten, ohne etwas dafür zu bezahlen. Sobald sich Frankreich vor seiner Vertragserfüllung drückte, waren die Sowjets aus dem Schneider. Wenn Frankreich für Prag in den Krieg gezogen wäre, kann man über die Qualität und Quantität der russischen Hilfe nur Vermutungen anstellen. Die Franzosen trugen aber eindeutig die größere Verantwortung, und ihr Versäumnis, sich ihrer würdig zu erweisen, befleckte ihren guten Namen.
    Am Ende gab es in München drei Verlierer: die Tschechoslowakei, England und Frankreich, und zwei Gewinner: Hitler und Stalin. Das ist die angemessene Zusammenfassung einer historischen Katastrophe in einem Satz.
     
    V ier Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Sudetenland trat Beneš zurück; zwei Wochen später reiste er nach London aus. Sein Nachfolger, der 66-jährige, ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof Dr. Emil Hácha, war gesundheitlich angeschlagen und zog die Kunst der Politik vor. Widerwillig versuchte der vorsichtige Jurist, seine Regierung aus überalterten Beamten, zweitklassigen Mitarbeitern und Kollaborateuren auf einen Kurs zu bringen, der die Deutschen zufriedenstellte, zugleich aber die nationale Unabhängigkeit bewahrte. Es war eine zum Scheitern verurteilte Aufgabe.
    Unter dem Sudetenland versteht man im engeren Sinn lediglich den nördlichen Streifen des Landes, die Hügelkette der Sudeten, aber laut dem Münchner Abkommen ging es um weit mehr als das. Wie im Wortlaut festgehalten, erstreckten sich die besetzten Gebiete entlang der ganzen Westgrenze und um den Südrand fast bis zur heutigen Slowakei. Auf der Karte hatte die besetzte Region Ähnlichkeit mit einem offenen Rachen, der nur darauf wartete, den kleinen Rest zu verschlingen, der von T. G. Masaryks demokratischer Republik noch übrig war.
    Damit nicht genug, machten auch Polen und Ungarn Gebietsansprüche geltend und erhielten, mit deutscher Rückendeckung, Territorien zugesprochen, auf die sie seit dem Ersten Weltkrieg ein Auge geworfen hatten. Die Tschechen, die sich nach dem Kampf gesehnt hatten, wurden stattdessen aufgefordert, sich mit dem Verlust von 30 Prozent ihres Territoriums, einem Drittel der Bevölkerung, 40 Prozent des Volkseinkommens und des größten Teils der Bodenschätze abzufinden. Die Befugnisse ihres Parlaments wurden aufgehoben, so dass die verschiedenen, politischen Parteien überflüssig waren. Die meisten Anhänger Beneš’ sowie Juden wurden von Regierungsämtern ausgeschlossen. Die Armee wurde halbiert und demobilisiert. Deutsche Flüchtlinge, die sich vor den Nationalsozialisten versteckt hatten, wurden entlarvt und zusammengetrieben, zugleich kamen zuvor gefasste deutsche Spione wieder auf freien Fuß. Antifaschisten im Sudetenland wurden vertrieben, ihr Besitz wurde an die Anhänger Henleins verteilt. Slowakische Nationalisten sicherten sich in der Form ihrer eigenen Regionalverwaltung, eines eigenen Parlaments und eines kleinen Bindestrichs eine Autonomie: Der neue offizielle Name des Landes lautete Tschecho-Slowakische Republik.
    In den folgenden Monaten begannen slowakische Separatisten eine enge Zusammenarbeit mit Henlein und verstärkt mit Berlin. Die vielen Slowaken, die sich für eine Kooperation mit den Tschechen ausgesprochen hatten, wurden an den Rand gedrängt. Wenn eine vereinigte Republik den Nazis nicht standhalten konnte, warum sollten die Slowaken dann noch der alten Hauptstadt die Treue halten  – vor allem wenn die Deutschen ihnen die nationale Unabhängigkeit in Aussicht stellten?
    In Prag bemühte sich die Regierung nach Möglichkeit, nicht den Zorn Berlins auf sich zu ziehen, aber die Deutschen dachten sich eine Wiederholung des Ansatzes aus, der im Vorfeld von München so hervorragend funktioniert hatte. Was die Tschechen auch taten, nichts war den Deutschen gut genug. Woche um Woche wurde die Liste der Forderungen immer länger: judenfeindliche

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