Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Herzen seiner Landsleute. Von den Bündnispartnern im Stich gelassen und von Feinden umringt, lastete eine furchtbare Verantwortung auf ihm. Zu seiner Rechtfertigung muss man sagen, dass er sich anschließend bemühte, das absolut Beste aus der Entscheidung zu machen, zu der er seiner Meinung nach gezwungen gewesen war.
Aber was wäre gewesen, wenn man Beneš niemals in eine so unmögliche Lage gebracht hätte? Was wäre gewesen, wenn die Briten und Franzosen die Geduld mit Hitler verloren hätten und sich, statt Beneš zu drängen, Henleins Forderungen nachzukommen, gemeinsam mit Moskau und Prag entschlossen den Deutschen die Stirn geboten hätten? Was wäre gewesen, wenn sie auf die deutschen militärischen Vorbereitungen mit einer Mobilmachung der eigenen Streitkräfte geantwortet hätten?
Diese Strategie hätte die tschechoslowakischen Soldaten noch stärker motiviert und die Bedenken des deutschen Oberkommandos gesteigert. Wenn die Alliierten einig gewesen wären, wäre es an Hitler gewesen, sich für eine von ausnahmslos unerfreulichen Optionen zu entscheiden: den Rückzug antreten, ein militärisches und diplomatisches Patt beibehalten oder zu einem von ihm nicht gewünschten Zeitpunkt einen Krieg beginnen. Wenn die Nazis angegriffen hätten, hätten die Alliierten sie kaum daran hindern können, Prag zu besetzen, aber das war nicht das eigentliche Ziel Hitlers. Ein Krieg gegen mehrere Gegner im Herbst 1938 hätte das deutsche Militär sowohl an der West- als auch an der Ostfront massiv unter Druck gesetzt. Zugleich wären der Luftwaffe die Flügel gestutzt worden, und ein Embargo durch die Royal Navy hätte die Wirtschaft des Landes empfindlich getroffen.
Die westlichen Streitkräfte waren Ende 1938 schwächer als in den folgenden Jahren, aber das Gleiche galt für die Deutschen. Die Polen waren keine Freunde der Tschechen, wären aber dennoch aus Rücksicht auf die Briten und Franzosen zu Bündnispartnern geworden. Bei einem derartigen Szenario könnte man die missliche Lage der Nationalsozialisten durchaus mit der eines Langstreckenläufers vergleichen, der gezwungen wird, die ersten Kilometer eines Marathons in einem Sprint zurückzulegen, bei dem er sich völlig verausgabt. Selbst wenn die Nazis die Tschechoslowakei zerschlagen hätten, so hätte die erforderliche Anstrengung ihren Durchmarsch durch Europa verhindert oder zumindest gebremst, was wiederum andere Optionen eröffnet hätte, etwa einen breiteren Aufstand innerhalb des deutschen Militärs gegen Hitler und einen kürzeren, nicht ganz so tödlichen Konflikt.
Nach dem Krieg wurde der gefangen genommene deutsche General Wilhelm Keitel gefragt, ob das Reich die Tschechoslowakei im Jahr 1938 angegriffen hätte, wenn die Westmächte Prag die Treue gehalten hätten. Er erwiderte sinngemäß: »Sicher nicht. Wir waren militärisch nicht stark genug. Das Ziel in München bestand darin, Russland aus Europa hinauszuwerfen, Zeit zu gewinnen und die deutschen Rüstungen zu vervollständigen.« 101
Die Verteidiger der britischen und französischen Politiker haben darauf hingewiesen, dass der Weg nach München schon vor ihrem Amtsantritt vorgezeichnet war. Die Strafmaßnahmen des Versailler Vertrags, der Abbau der Rüstungsausgaben, das Versäumnis, die Nationalsozialisten nach der Besetzung des Rheinlands in die Schranken zu weisen, und der passive Tenor der öffentlichen Meinung im Westen – all dies könne man nicht Chamberlain und Daladier in die Schuhe schieben. Meinen Studenten habe ich häufig gesagt, dass man die Weltpolitik mit einer Partie Billard vergleichen kann: Jeder Stoß löst eine Kettenreaktion aus, die wiederum neue Hindernisse und Optionen schafft. Gegenüber einem Spieler, der in einer ungünstigen Stellung hinter der schwarzen Kugel anfängt, sollte man Nachsicht walten lassen, wenn ihm in dieser Situation kein unmöglicher Stoß gelingt, aber am Ende kann man am Punktestand ablesen, wie gut er seine Chancen genutzt hat.
Im Nachspiel zu München schrieb Chamberlain dem Erzbischof von Canterbury einen Brief. »Eines Tages werden die Tschechen erkennen«, schrieb er, »dass das, was wir taten, dazu diente, ihnen eine glücklichere Zukunft zu sichern.« Sie hätten, prahlte er, »endlich den Weg frei gemacht zu jener allgemeinen Befriedung, die einzig und allein die Welt vor dem Chaos bewahren kann«. 102 Eine unfähige Führung lässt sich zweifellos so definieren, dass jemand ein Ziel erreicht, dafür das Verdienst beansprucht und
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