Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
gingen wir endlich an Bord eines Schiffes nach England. Reiseziel: Freiheit.
TEIL II
April 1939 – April 1942
In unserem Schicksal wird ein universales Drama aufgeführt … (weil) jeder Einsatz brutaler Gewalt von kurzer Dauer ist verglichen mit dem anhaltenden Bedürfnis des Menschen nach Freiheit, Frieden und Gleichheit.
KAREL ČAPEK,
Ein Gebet für die Nacht , 1938
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BESATZUNG UND WIDERSTAND
R eichsprotektor Baron Konstantin von Neurath traf am 5. April 1939 mit dem Zug in Prag ein. Es folgte eine ganztägige Feier, an der Repräsentanten lokaler Organisationen lustlos teilnahmen, weil ihnen nichts anderes übrig blieb und viele einen Eid nachplapperten. Berlin hatte die Absicht, die Tschechen auszuplündern, ohne einen Aufstand zu provozieren. Deshalb hoffte Neurath, dass sie sich schon bald mit dem Verlust der Freiheit abfinden würden, so dass die Deutschen möglichst wenig Gewalt anwenden mussten. Der weißhaarige Protektor war von Natur aus eher ein Diplomat als ein Rädelsführer, der von seinem vorherigen Posten als Außenminister abgesetzt worden war, weil er Hitlers Kriegspläne missbilligt hatte. Er achtete in seiner neuen Stellung darauf, in der Öffentlichkeit dem tschechischen Präsidenten Hácha stets mit der gebührenden Ehrerbietung zu begegnen und die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass die Tschechen bei ihren Angelegenheiten noch etwas mitzureden hätten.
Neurath war nicht der einzige Deutsche, der Mitleid zur Schau stellte. In den ersten Tagen der Besatzung schickte eine bayerische wohltätige Organisation eine Kolonne mit freiwilligen Helfern nach Prag. Ihre Mission war es, die Kinder der Stadt mit Nahrung zu versorgen, die – wie es in der NS-Propaganda hieß – wegen der Unfähigkeit der Behörden vor Ort Hunger leiden mussten. In Wirklichkeit waren die einzigen Jugendlichen, die wirklich kostenlose Mahlzeiten brauchten, antifaschistische, sudetendeutsche Flüchtlinge. Als die Bayern feststellten, dass es längst nicht so viele Hungrige gab wie angenommen, baten sie einige fotogenere Kinder, ihnen vorzumachen, wie sie ihr Nachtgebet aufsagten. Die zugehörigen Bilder wurden unter der Überschrift »Prager Kinder betteln um Essen« nach Berlin geschickt. 15
Kaum eine Woche nach der Besetzung wurden das Parlament und die herkömmlichen politischen Parteien aufgelöst. An ihrer Stelle schuf Hácha die sogenannte Nationale Gemeinschaft (tschechisch abgekürzt: NS) o , eine Organisation, der fast die ganze tschechische Bevölkerung angehörte, außer Juden und Freimaurern, die den Deutschen zuliebe ausgeschlossen wurden, und Frauen, die nicht zugelassen wurden, weil sich Masaryk und Beneš nicht mehr für eine gleiche Behandlung einsetzen konnten. Die NS war eine praxisorientierte Einrichtung, keine ideologische. Sie bemühte sich darum, sich an die deutsche Besatzung anzupassen, ohne die eigenen Sitten und Bräuche des Landes aufzugeben.
Jene Tschechen, die in den Jahren des Protektorats Ämter innehatten, wurden später als Verräter beschimpft oder als »Kollaboranten«, wie meine Mutter sie voller Verachtung nannte. Diese Etikette wurde nicht immer den eigentlichen Intentionen der Betroffenen gerecht. Anfangs schickte Hácha Botschaften an Beneš, in denen er ihm seine Loyalität zusicherte: »Ich freue mich auf den Tag, an dem ich mein Amt übergeben werde; Sie wissen schon, an wen.« 16 Der alte Richter hatte das Amt des Präsidenten nicht gewollt und erweckte stets den Eindruck, er sei kurz davor zurückzutreten. Sein erklärtes Ziel war es, den Schaden möglichst gering zu halten, aber er erkannte nicht, dass man dem Geist ebenso Schaden zufügen konnte wie dem Körper. Er drängte sein Volk, zugleich gute Tschechen und gute Deutsche zu sein – was in Friedenszeiten eventuell noch denkbar war, aber nicht unter einer Besatzung. Der anfängliche Freund der Demokratie Hácha wurde am Ende zu einem Gegner; als außerordentlich schwaches Rohr im Wind trat er für überhaupt nichts in einem Amt ein, das er niemals hätte annehmen dürfen.
Im Gegensatz dazu trotzte der neue Regierungschef General Alois Eliáš dem Wind und weigerte sich zu katzbuckeln. Eliáš vermied es ebenfalls, die Nazis zu provozieren, unterhielt aber hinter ihrem Rücken engen Kontakt zum tschechischen Untergrund,
schmuggelte Informationen nach London und half nach Kräften den Familien der Menschen, die verhaftet worden waren. Viele andere Beamte versuchten, so viel wie möglich von der nationalen
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