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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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damit einen ewigen Ehrenplatz in der tschechischen Geschichte. Aber das war auch schon alles.
     
    D as nationale Gedächtnis eines jeden Volkes ist eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit. Für die Tschechen ist 1620 das Jahr, in dem sie ihre Unabhängigkeit verloren, und 1918 das Jahr, in dem sie sie wiedergewannen. An den Iden des März 1939 wurde ihnen die Freiheit wiederum genommen. Nach wenigen Tagen hingen Plakate mit rotem Rand, einem Adler und Hakenkreuz in ganz Prag. SA-Männer lungerten mit aufgepflanztem Bajonett in den Straßen der Altstadt, um den Wenzelsplatz, vor den Kirchen und auf dem alten Hradschin herum. Die Gestapo richtete ihr Hauptquartier ein. Deutschsprachige Straßenschilder tauchten an jeder Straßenecke auf. In einem Telegramm vom 19. März aus der US-Botschaft hieß es:
    Es verstecken sich hier einige Tausend … politische Flüchtlinge und ihre Familien und schweben in Lebensgefahr. Viele Frauen und Kinder verbringen Tag und Nacht in den Wäldern um Prag, ungeachtet der Tatsache, dass der Boden von Schnee bedeckt ist. Sämtliche Hilfsorganisationen wurden zwangsweise aufgelöst … die deutsche Geheimpolizei nimmt hier Hunderte, vielleicht Tausende von Verhaftungen in der üblichen Nazi-Manier vor; die jüdische Bevölkerung zittert vor Angst; genau wie … jene Personen, die eng mit dem ehemaligen Regime verbunden waren. 108
    Meine Eltern zählten zu den Leuten, denen nur noch eine Frage durch den Kopf ging: Wie kommen wir hier raus? Meine Mutter schreibt dazu:
    Technisch war es unmöglich, Tschechoslowakei sofort zu verlassen. Herrschte komplettes Chaos in Prag. Die Verkehrsverbindungen waren unterbrochen kurze Zeit, Banken geschlossen, Freunde verhaftet. Aus zuverlässigen Quellen erfuhren wir, dass auch der Name von Jožka war auf einer List von Leuten, welche sollten verhaftet werden. Nach Zurücklassen von Madeleine bei meine Familie Jožka und ich zogen aus unsere Wohnung aus und von da an schliefen jede Nacht bei Freunden, verbrachten die Tage in Prager Straßen und in Restaurants. Wenn Gestapo Leute nahm fest, dann war meistens Nacht. 109
    Nach über einer Woche auf der Flucht hatten meine Eltern die erforderlichen Papiere zusammen. Meine Mutter schrieb später, dass dabei ein wenig Schmiergeld im Spiel gewesen war, was in jenen Tagen nicht sonderlich verwunderlich war. Die Nationalsozialisten hatten eine Behörde für die Bearbeitung von Ausreisevisa eingerichtet, die darauf achten sollte, dass keine bekannten Feinde das Land verließen, aber sie waren von Anfang an auf tschechische Beamte angewiesen, die Anweisungen ignorierten und Hunderten politischen Aktivisten die Flucht ermöglichten.
    Am 25. März 1939 holte meine Mutter mich bei Großmutter Růžena ab und setzte sich am Nachmittag mit mir in ein Café, während mein Vater zur Polizei ging, um sich den letzten Stempel geben zu lassen. Als er gegen 17 Uhr zurückkehrte, hatten wir gerade noch Zeit, zwei kleine Koffer zu packen, ehe wir zum Bahnhof gehen mussten. Ich nehme an, dass Růžena, Arnošt und Olga alle zum Abschied gekommen waren, weil Mutter in ihrem Aufsatz traurig anmerkt, dass es das letzte Mal war, dass wir sie lebend sahen.
    Seit der NS-Invasion waren zehn Tage vergangen. Der Simplon-Orient-Express in Richtung Südosten fuhr nur drei Mal wöchentlich durch Prag. An jenem Tag drängten sich auf dem
Bahnsteig mit Sicherheit viele Menschen, und die Wagen waren vermutlich alle überfüllt. Der Anblick der Hakenkreuze rings umher dürfte bei meinen Eltern sämtliche Zweifel bezüglich der Entscheidung ausgeräumt haben. Sie schoben sich durch die Menge und zeigten dem Schaffner ihre Fahrkarten. Der Pfiff ertönte, und unsere lange Fahrt begann. Die Abteile in den Schlafwagen waren mit Holz getäfelt, hatten jeweils zwei Betten und ein winziges Waschbecken. Tagsüber konnte man die Betten hochklappen und den Raum in ein kleines Wohnzimmer verwandeln. Da es für mich keinen separaten Platz gab, wechselte ich wohl von einem Platz zum anderen, während meine Eltern mich ermunterten, es mir gemütlich zu machen und ein wenig zu schlafen. Die erste Grenze, die wir überquerten, war die der seit neuestem unabhängigen Slowakei. Dann kam die Grenze nach Ungarn, wo jeder Passagier, darunter jeder politische Aktivist und insbesondere jeder Jude, den Atem anhielt, bis er oder sie seine Papiere zurückbekam und der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Nach Ungarn kam Jugoslawien, dann weiter nach Griechenland, dort

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