Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Gesetzgebung, wirtschaftliche Vergünstigungen, einen Anteil an den Goldreserven des Landes, die Auflösung kommunistischer Gewerkschaften, eine noch unterwürfigere Außenpolitik. Und mit jeder
neuen Forderung ging die Warnung einher, dass Hitler allmählich die Geduld verliere.
Tschecho – Slowakische Republik nach München
Am 14. Oktober, nur zwei Wochen nach München, schrieb das tschecho-skowakische Verteidigungsministerium an das Außenministerium und bat um die Entlassung meines Vaters. Als Grund wurde meine Mutter angegeben. Angeblich hatte sie zu einigen tschechischen Armeeoffizieren beim Mittagessen in der Wohnung des Botschafters gesagt, dass sie, weil die Offiziere es versäumt hätten, das Land zu verteidigen, lieber einen Straßenkehrer als sie zum Mann nehmen würde. Hat sie das wirklich gesagt? Ich weiß es nicht, aber es sähe ihr ähnlich. Spielte es eine Rolle? Die Angelegenheit war womöglich rein akademisch, weil mein Vater seinen Posten nach dem Münchner Abkommen ohnehin nicht lange behalten hätte. Die profaschistische Führung in Jugoslawien wollte ihn aus dem Land haben, und das Gleiche galt für die Nationalsozialisten in Berlin. Am unteren Rand des Briefs aus dem Verteidigungsministerium wurde in einem anderen Schrifttyp ergänzt: »Dr. Körbel und seine Frau sind Juden.«
Ende Dezember wurde mein Vater von seiner Stelle in Belgrad abberufen und bekam vorübergehend einen Schreibtischjob in Prag. Er hielt sofort nach einer Möglichkeit Ausschau, unsere Familie nach England zu bringen, wo sich inzwischen Beneš und andere
prominente Exiltschechen versammelten. Vielleicht gelang es ihm mit Hilfe seiner Kontakte in Jugoslawien, die Empfehlung als Auslandskorrespondent in England für eine serbischsprachige Zeitung zu bekommen.
Anfang 1939, während mein Vater nach einem Weg aus dem Land suchte, begannen die letzten Wochen der Tschecho-Slowakischen Republik in ihrem kurzen Bestehen. Die Nationalsozialisten, die entschlossen waren, das ganze Land in ihre Gewalt zu bringen, forschten einmal mehr nach einem plausiblen Vorwand. Ein Jahr zuvor war die Sache der Sudetendeutschen mit dem Schlagwort Selbstbestimmung kaschiert worden. Warum sollte man nicht die gleiche List bei den Slowaken anwenden? Die Nationalsozialisten zogen eine ganze Reihe von Kandidaten für die Rolle eines slowakischen Henlein in Betracht und entschieden sich am Ende für Dr. Jozef Tiso, einen konservativen Parteiführer, erklärten Separatisten und katholischen Priester. Am 13. März berief Hitler Tiso zu sich nach Berlin und wollte in einer Frage »Klarheit haben«, anders gesagt, stellte er ihm ein Ultimatum: »Wolle die Slowakei ihr Eigenleben oder nicht? Es handele sich nicht um Tage, sondern um Stunden.« 106 Tiso wurde für seine Entscheidung eine Frist bis 13 Uhr am folgenden Tag gewährt. Falls die Slowaken bis dann nicht ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, würde man Ungarn einladen, sich ihr Land einzuverleiben.
Dank ihres gut platzierten Spions in Deutschland (Agent 54) wusste der tschechische Nachrichtendienst, dass die Nationalsozialisten eine Invasion planten. Er kannte den geplanten Zeitpunkt, ja sogar den Decknamen: Unternehmen Südost. Der Geheimdienstchef Oberst Moravec teilte die Information Hácha und der übrigen tschechischen Führung mit und forderte nachdrücklich, Vorkehrungen für den Ernstfall zu treffen, um Militärflugzeuge zu evakuieren, Munitionsfabriken zu sprengen, Geheimarchive zu zerstören und die Führer des Landes nach Paris oder London zu schaffen. Die Mitglieder des Kabinetts waren überzeugt, dass sich Hitler mit dem Status quo zufriedengebe, und wollten nicht glauben, dass eine Invasion bevorstand. Sie beschlossen jedoch, ein Treffen anzustreben, um die Angelegenheit zu regeln. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit
am 14. März, wenige Stunden nach der Unabhängigkeitserklärung des slowakischen Parlaments, reisten Hácha und mehrere seiner Berater mit dem Zug nach Berlin.
D er Bruder meines Vaters Jan (»Honza«) arbeitete für das gleiche Bauunternehmen wie sein Vater Arnošt Körbel und hatte bereits eine Tochterfirma in England, wo man hoffte, dass auch noch Platz für Arnošt sei. Mit der Stelle Honzas war es für seine Frau und zwei Kinder kein Problem, zu ihm nachzureisen. Meine Tante Margarethe und ihr Mann Rudolf Deiml beantragten ebenfalls Visa, aber bislang ohne Erfolg. Sie hatten zwei Töchter: Dagmar (Dašá), elf Jahre, und Milena, sieben. Der Vater meiner
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