Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
(SD), die Juden, Kirchenmänner, Adlige und Intellektuelle während der Invasion in Polen ermordeten. Im Herbst 1941 sorgte er dafür, dass unter den Russen vergleichbare Gräueltaten begangen wurden.
Für die meisten Tschechen waren die ersten zweieinhalb Jahre NS-Besatzung ebenso eine Last wie eine Demütigung gewesen. Juden wurden einer massiven Diskriminierung ausgesetzt; Universitäten wurden geschlossen; abendliche Sperrstunden galten immer noch; und in den Straßen, Läden, Regierungsbehörden und Führungsetagen der Industrie wimmelte es nur so von deutschen Soldaten, Bürokraten, Spionen und Profiteuren. Doch der Durchschnittstscheche war eher wütend als verängstigt. Wer den Mund hielt und den Kopf einzog, konnte mehr oder weniger weiterleben wie bisher. Selbst die Mehrheit der Verhafteten wurde schon bald wieder entlassen; in seltenen Fällen kam es zu Hinrichtungen. Tschechen konnten sogar offen den Stolz auf ihre Identität zeigen, solange sie sich nicht respektlos gegenüber den Deutschen verhielten. Im Laufe
der Zeit zeigte diese relativ entspannte Atmosphäre Wirkung. Der Untergrund wurde mutiger. Die Sendungen der BBC entwickelten sich von einer lästigen, kleinen Plage zu einer realen Gefahr. Und die ersten Tschechen fragten sich bereits, wie weit sie gehen konnten. Insbesondere diese letzte Frage wollte Heydrich unmissverständlich beantworten.
Der Plan des Stellvertretenden Protektors, die dominierende Stellung zu behaupten, basierte auf dem Prinzip von »Zuckerbrot und Peitsche«, wie Heydrich dem Vernehmen nach selbst meinte. Von seinem ersten Tag in Prag an schuf er eine Atmosphäre der Angst, indem er das Kriegsrecht verhängte und die Ergreifung, Befragung und Folter von Tausenden von Tschechen anordnete. Unter den Verhafteten war auch Regierungschef Eliáš, dessen Verbindungen zum Untergrund schon seit geraumer Zeit bekannt waren, den Neurath aber gedeckt hatte. Jetzt wurde Eliáš zum einzigen Regierungschef in einem von den Deutschen besetzten Land, der vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde. Jeden Nachmittag brachten Polizeiautos Häftlinge zum Schießplatz. Am Morgen wurden fein säuberlich getippte Plakate mit den Namen und Geburtsdaten der Opfer an den Straßenlaternen aufgehängt. Die Verwandten waren verpflichtet, der Gestapo die Kosten für die Hinrichtung und die Plakate zu erstatten.
Am 2. Oktober 1941, eine Woche nach seiner Ankunft, rief Heydrich seine Mitarbeiter zu sich. Er forderte, dass man gegen das aktuelle Zunahme des Widerstands und der Sabotageakte mit »unerbittlicher Härte« vorgehe. Jeder Tscheche müsse sich über seine Pflicht im Klaren sein: ununterbrochen für die deutschen Kriegsanstrengungen arbeiten. Das könne aber lediglich mit Brutalität erreicht werden, weil die einheimische Bevölkerung schon das kleinste Nachgeben mit Schwäche gleichsetze. Das heißt aber, »dass auch nicht ein einziger Deutscher dem Tschechen etwas vergibt … dass es keinen Deutschen gibt, der sagt: der Tscheche ist aber anständig.«
Es sei keineswegs das Ziel, erklärte er, die armen Kerle bis zur Erschöpfung schuften zu lassen, sondern die vollen Früchte ihrer Arbeitskraft zu ernten. Das bedeute, dass die Arbeiter für die Dauer
des Konflikts die nötige Nahrung bekommen müssten. Allerdings müsse man an dem langfristigen Ziel festhalten. Diese Region müsse wiederum deutsch werden, denn es gelte der Grundsatz, »dass der Tscheche in diesem Raum letzten Endes nichts mehr verloren hat«. Heydrich gab seinen Plan bekannt, medizinische Untersuchungen für die ganze Bevölkerung des Protektorats anzuordnen, angefangen bei den Kindern, um zu ermitteln, welcher Anteil für eine potenzielle »Arisierung« verschont und welcher vernichtet werden könne. Am meisten Kummer würden ihm unter den Tschechen »die gutrassig Schlechtgesinnten [machen]. Das sind die gefährlichsten, denn das ist die gutrassige Führerschicht.« 77
Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, 1939–1945
Die Zeremonie, in deren Verlauf er die böhmischen Kronjuwelen in Besitz nahm, bildete den Höhepunkt der ersten Phase seiner Strategie: Die deutsche Vorherrschaft war nunmehr symbolisch ebenso gefestigt wie politisch und ökonomisch. In Phase zwei hob Heydrich das Kriegsrecht auf und betonte die Vorzüge einer Kollaboration. Arbeiter in Rüstungsfabriken erhielten höhere Löhne, kostenlos Schuhe, Zigaretten, größere Lebensmittelrationen und zusätzliche Urlaubstage. Tschechen, die ihre
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