Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
appellierte sogar an westliche Staatschefs, ihre Besorgnis um das Wohl der Juden durch die Öffnung ihrer Grenzen zu untermauern, eine Herausforderung, der
sich der Westen schmählich entzog. Im Jahr 1940 entwickelten NS-Funktionäre den Plan, jährlich eine Million Juden in die französische Kolonie Madagaskar zu schicken. Dieses Hirngespinst, das vermutlich von Hitler gebilligt worden war, wurde zunichtegemacht, als die Briten die Luftschlacht um England überstanden. Die deutsche Flotte war nicht groß genug, um gleichzeitig gegen die Marine Seiner Majestät zu kämpfen und einen Fährtransport nach Afrika zu organisieren.
Das Unternehmen Barbarossa, die deutsche Invasion in Russland, schien eine weitere Option zu eröffnen. Da man von einem schnellen Sieg ausging, würde in Kürze der gesamte eisige Osten der UdSSR zur Verfügung stehen. Die Nationalsozialisten stellten jedoch schon bald fest, dass sich der Erfolg nicht ganz so schnell wie erhofft einstellen sollte; in der Zwischenzeit hatte die Wehrmacht bei der Schienenkapazität Vorrang für die Verlegung von Truppen. Die Bürokraten, die für die Judenfrage zuständig waren, mussten improvisieren.
Seit Herbst 1941 bis zum Januar des folgenden Jahres leitete Heydrich eine Reihe von Treffen, die dazu dienen sollten, eine »Endlösung«, wie er es nannte, für die Judenfrage in Europa zu finden. Die Auswanderung war ein Anfang gewesen, war jedoch angesichts der neuesten Eroberungen Deutschlands eindeutig unzureichend. Arbeitslager und Gefängnisse konnten allenfalls einen Teil der drei und eine Viertel Millionen Juden aufnehmen, die in den Einflussbereich der Nazis geraten waren. Eine umfassende Strategie wurde benötigt, welche den Kriegsanforderungen, dem dringenden Wunsch des »Führers«, die Juden zu vertreiben, und dem Bestreben des Auswärtigen Amts Rechnung trug, eine unnötige Beschädigung des Ansehens des Landes zu vermeiden. Heydrich entschied sich für eine schrittweise Vorgehensweise: Die Evakuierten sollten zunächst aus dem Reich und dem Protektorat in Ghettos geschickt; anschließend zum Zwecke der Zwangsarbeit und »Sonderbehandlung« an Orte im Osten deportiert werden.
Die systematische Deportation der Juden aus tschechischen Gebieten begann im Oktober, als der erste von fünf Transporten Prag in Richtung Polen verließ. Unter den Deportierten befanden sich
viele führende Akademiker und Geschäftsleute der Stadt. Bei der Ankunft im Ghetto von Łódź wurden sie Arbeitskommandos zugeteilt. Nach einer monatelangen Ausbeutung wurden die Überlebenden in das rund 50 Kilometer entfernte Dorf Chełmno (deutsch: Kulmhof ) geschickt, wo bereits im Dezember 1941 Menschen in Gaswagen ermordet wurden. Die »Aktion Reinhard«, die Vergasung von zwei Millionen Juden und etwa 50 000 Sinti und Roma einige Monate später, in der Zeit zwischen Juli 1943 und Oktober 1943, in den Vernichtungslagern Sobibor, Treblinka und Belzec wurde Heydrich zu Ehren nach ihm benannt.
Im November 1941 begannen die Deutschen auch mit der Deportation von Juden nach Theresienstadt oder Terezín, wie die Tschechen es nennen. Es handelte sich um die sternförmig angelegte Festung, die Kaiser Joseph II. 150 Jahre zuvor nach seiner Mutter benannt hatte. Die Stadt lag in der Nähe der tschechisch-deutschen Grenze, gut 60 Kilometer nördlich der Hauptstadt. Die Führung der jüdischen Gemeinde Prags war über die früheren Transporte schockiert gewesen. Der Anblick der Nachbarn, die sich unter den Augen der Gestapo in Reih und Glied aufstellen und in überfüllte Züge zwängen hatten müssen, hatte dazu geführt, dass sie nun mit einer gewissen Erleichterung die Vorstellung eines jüdischen Ghettos innerhalb des Protektorats akzeptierte; das war, noch bevor sich irgendjemand, von den Nationalsozialisten abgesehen, Vernichtungslager oder Gaskammern überhaupt vorstellen konnte. Wenn die deutsche Besatzung bedeutete, dass Juden gezwungen waren, separat, aber zumindest in der Nähe zu leben, dann war das eben nicht zu ändern; es hätte schlimmer kommen können. Heydrich und Eichmann versprachen nicht nur, dass tschechische Juden eine »Selbstverwaltung« hätten, sondern dass es ihnen erlaubt würde, in Theresienstadt zu bleiben, und dass sie nicht noch einmal umziehen müssten. Das war eine glatte Lüge. Heydrich hatte Eichmann und andere Mitarbeiter bereits informiert, dass Theresienstadt lediglich ein »vorübergehendes Sammellager« sei. Nach einiger Zeit, wenn alles nach
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