Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
Vom Netzwerk:
Zweifrontenkrieg in Kauf zu nehmen? Als Vorsichtsmaßnahme taten die Sowjets nichts, was Hitlers Zorn hätte erregen können. In den ersten Monaten des Jahres 1941 verkauften sie Deutschland 250 000 Tonnen Erdöl und 750 000 Tonnen Getreide. Stalin beruhigte sich, wie seinerzeit Chamberlain, mit der Gewissheit, was er an Hitlers Stelle tun würde; genau wie Chamberlain irrte er sich aber. Vielmehr behielt Beneš Recht. Er erwartete nicht, dass Hitler auf eine Weise handelte, die andere für logisch halten mochten,
sondern dass er sein selbst eingebildetes Schicksal erfüllen wollte. Der Traum der Nationalsozialisten stützte sich auf eine Expansion nach Osten, die einen Zusammenstoß mit Stalin unvermeidlich machte. Wenn der »Führer« noch länger wartete, meinte Beneš, würde er dem sowjetischen Militär eine gefährlich lange Zeitspanne für die Vorbereitung einräumen. Außerdem musste Hitler, wenn er das Überraschungsmoment nutzen wollte, noch in Aktion treten, bevor die feindlichen Analysten Deutschland für kampfbereit hielten. Das ganze Frühjahr über warnte der tschechoslowakische Präsident eindringlich, dass die Deutschen die Absicht hatten, schon bald und ohne Vorwarnung in die UdSSR einzumarschieren. Am 22. Juni erfüllte sich diese Prophezeiung. Binnen einer Woche rückten deutsche Panzer und Soldaten mehr als 300 Kilometer weit in sowjetisches Gebiet vor, töteten eine riesige Anzahl von Russen und machten viele Kriegsgefangene. Die völlig überrumpelte Rote Armee zog sich in einem heillosen Durcheinander zurück. Der paranoide Stalin befürchtete, dass er abgesetzt oder womöglich von seinen eigenen Helfershelfern erschossen würde. Der Ausgang des Überfalls schien sicher. Die Militärexperten waren sich einig: Die Deutschen würden innerhalb von zwei Monaten Moskau überrennen.
    In London hatten diese Ereignisse eine dramatische und sofortige Neueinschätzung der Lage zur Folge. Die Sowjetunion, die bislang sowohl wegen des bolschewistischen Regimes als auch wegen des schändlichen Paktes mit Hitler geächtet worden war, wurde über Nacht der erklärte Gegner des gefährlichsten Feindes der Zivilisation. Die Sowjets brauchten Hilfe; der Westen zitterte bei dem Gedanken daran, dass Hitler von Paris bis Wladiwostok herrschen könnte. In einer Radioansprache an die Nation unterdrückte Churchill am Abend der Invasion seinen tief verwurzelten Antikommunismus und erklärte: »Jeder Mensch und jeder Staat, der gegen das Nazitum kämpft, wird unsere Hilfe haben. Jeder Mensch und jeder Staat, der mit Hitler marschiert, ist unser Feind. – Daher ist die Gefahr Russlands unsere Gefahr und die Gefahr der Vereinigten Staaten. Und die Sache jedes Russen, der für seinen Herd und sein Heim kämpft, ist die Sache der freien Menschen und der freien Völker in jedem Teil der Erde.« 74
    Das Zerstörungswerk der Deutschen war entsetzlich, aber es hieß zugleich, dass die Sowjets gezwungen waren, nach Freunden Ausschau zu halten – und die Zuneigung der Tschechoslowakei stand sofort zur Verfügung. Beneš sagte dem russischen Botschafter in London, dass sein Land alles in seinen Kräften Stehende tun werde, um ihnen zu helfen, unter der einzigen Bedingung, dass Moskau die Exilregierung uneingeschränkt anerkenne. Als Vertreter einer Nation im Belagerungszustand hatten sowjetische Diplomaten kein Interesse an juristischen Finessen; die Antwort lautete Ja.
    Unverzüglich informierte Beneš das Foreign Office, dass die Sowjets ihn hofieren würden. »Ich befürchte«, sagte er in überaus ernstem Ton, »dass Russland die volle Loyalität meines Volkes für sich beanspruchen wird und dass England, wie in München, außen vor bleiben wird.« Um dem Nachdruck zu verleihen, wies er darauf hin, dass die Sowjets versprochen hätten, auf ihrem Territorium eine tschechische und slowakische Legion aufzustellen und in Kürze von Moskau aus Radiosendungen in tschechischer Sprache auszustrahlen. Dieses Manöver hatte, so durchsichtig es auch war, den gewünschten Effekt. Mit Churchills und Edens Unterstützung wurden die juristischen Bedenken endlich beiseitegeschoben, das Adjektiv »provisorisch« wurde gestrichen, und am 18. Juli wurde die Exilregierung sowohl von der Sowjetunion als auch von Großbritannien offiziell anerkannt. x
    Damit standen die Tschechen und Slowaken auf derselben Stufe wie andere Politiker im Londoner Exil – doch die Mitgliederzahl der Gruppe war enorm gewachsen. Darunter waren nicht nur Polen

Weitere Kostenlose Bücher