Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Landsleute denunzierten, wurden belohnt, Polizei- und andere Beamte, die mit den Nazis kooperierten, wurden befördert. Mit der Mischung aus brutalem
Vorgehen und verführerischen Versprechen besonderer Privilegien gelang es Heydrich, den Widerstand erheblich zu schwächen. Zum ersten Mal wurde das System heimlicher, drahtloser Verbindungen zwischen dem Untergrund und der Exilregierung unterbrochen. Mehr als 400 Menschen wurden hingerichtet, 2000 weitere kamen ins Gefängnis. Es verstärkte sich das Gefühl, dass ein wirkungsvoller Aufstand unmöglich sei. Der inzwischen bis an den Rand des Verrats fügsame Hácha verurteilte öffentlich Beneš und die aufrührerischen Rundfunksendungen der BBC. Für die Deutschen lohnten sich die Ergebnisse: Die Munitionsfabriken arbeiteten wieder mit voller Geschwindigkeit; es kam seltener zu Sabotageakten; und tschechische Schulkinder sammelten Fäustlinge, Schals, Pullover und Skier, um sie den deutschen Soldaten in Russland zu schicken. Selbst Hitler war zufrieden. »Man könne die Tschechen schon jetzt zu fanatischen Anhängern des Reichs machen«, höhnte er, »wenn man ihnen als Feinschmeckern doppelte Rationen gebe und sie nicht in den Kampf im Osten schicke.« 78
Heydrich hatte den Posten in Prag gewollt, weil er ihn als Sprungbrett für eine Stellung in Paris oder einen noch höheren Posten in Berlin betrachtete. Martin Bormann, Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP und ab 1943 Privatsekretär des »Führers«, wies in einem Nachruf darauf hin, wie sehr der junge Mann in seinem kreativen Tatendrang Hitler ähnelte. Heydrich sei, so Bormann, »allezeit der fröhliche, starke Optimist [geblieben]; wie viel menschliche Schwäche, Unzulänglichkeit, Schlechtigkeit sah gerade er! Und trotzdem blieb er jederzeit der unbekümmerte, angriffslustige Nationalsozialist, dessen Glaube an die Meisterung der Aufgaben überhaupt nicht erschüttert werden konnte!« 79
Der Stellvertretende Protektor war in der Tat ruhelos, denn zusätzlich zu allen seinen Verpflichtungen übernahm er freiwillig noch eine: die Vorbereitung einer »Gesamtlösung der Judenfrage«.
Bürokratische Apparate bringen Scharen von Experten hervor; die NS-Maschinerie produzierte Experten für die Judenverfolgung. Mitglieder jenes Kaders wurden zuerst in Deutschland und Österreich gesammelt, dann in den anderen besetzten Gebieten. Sie entwickelten
ihren eigenen Wortschatz, der vor Euphemismen für Genozid und Mord nur so wimmelte, und fanden in der Gestapo ein Zuhause, wo sie lediglich Himmler und letztlich dem »Führer« unterstanden. Heydrich zählte zu denjenigen, die die Richtung vorgaben. Er erklärte, dass alle Juden, ob religiös oder säkular, ob Bankier oder Maurer, Teil einer sich über mehrere Generationen hin erstreckenden Verschwörung seien, um die Welt zu beherrschen und »arische« Werte zu vernichten. »Schon von jeher war der Jude«, schrieb Heydrich 1935 im SS-Organ Das Schwarze Korps, »der Todfeind aller nordisch geführten und rassisch gesunden Völker«; selbst die unzähligen jüdischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hätten, hätten dies lediglich getan, um echte Patrioten zu täuschen und die Aufmerksamkeit von ihren selbstsüchtigen Zielen abzulenken. 80
Im Lauf der dreißiger Jahre hatten Hitlers verbaler Fanatismus und die nationalsozialistische Einschüchterung Hunderttausende von Juden dazu getrieben, aus Deutschland zu flüchten. Die Auswanderung wurde von den Behörden des Reichs gefördert, die während der Prozedur danach trachteten, den Auswanderern ihren Besitz und ihr Vermögen abzunehmen. Diese Politik wurde 1938 nach dem »Anschluss« in Österreich von einem Anhänger Heydrichs noch ausgefeilt, von dem 32-jährigen Adolf Eichmann, dessen Dienststelle die bürokratischen Abläufe straffte und die Kosten der Auswanderung auf die Emigranten abwälzte, indem von wohlhabenden Juden kurzerhand eine Steuer eingezogen wurde. Sein »Wiener Modell« schleuste innerhalb von fünf Monaten 110 000 Menschen aus Österreich. Im Sommer 1939 eröffnete Eichmann in Prag eine vergleichbare Dienststelle und bezeichnete sich selbst als Zionist. Immerhin habe er doch den sehnlichen Wunsch, dass alle Juden nach Palästina ausreisen. 81
Vor dem Krieg und in den ersten beiden Jahren betrachteten die Nationalsozialisten die Auswanderung als ein Mittel, um die Staatsfinanzen aufzubessern und gleichzeitig einen ungeliebten Bevölkerungsanteil loszuwerden. Hitler
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