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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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und Jugoslawen, sondern auch Franzosen, Belgier, Griechen und eine ansehnliche Anzahl gekrönter Häupter: König Haakon VII. von
Norwegen, Königin Wilhelmina der Niederlande, Kaiser Haile Selassie von Äthiopien und Albaniens König Zogu. Sie waren alle Verbündete, aber in gewisser Weise zugleich Rivalen. Jeder hatte eigene Interessen, und sie alle trachteten nach Aufmerksamkeit und Hilfe von den Briten.
    Die Sache der Tschechoslowakei wurde in diesem Wettstreit durch den tapferen Wehrdienst ihrer Soldaten und Flieger gefördert. Beneš machte sich jedoch Sorgen, dass die Marionettenregierung in Prag womöglich kein Rückgrat zeigen und ihn in eine peinliche Lage bringen würde, indem sie die deutsche Invasion billigte oder gar Truppen zum Kampf gegen die Sowjets entsendete. Er schickte eine klare Botschaft an Hácha und Eliáš und ermahnte sie, auf keinen Fall öffentlich die Nazis zu unterstützen. Außerdem teilte er Hácha mit, dass seine Regierung soeben ihre Bedeutung verloren habe und dass er und seine höchsten Berater sich darauf einstellen sollten, jederzeit zurückzutreten. Es kam keine Antwort.
    Darüber hinaus war jetzt die Zeit gekommen, die Rolle des tschechischen Widerstands neu zu bewerten. Zwischen der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes und dem deutschen Verrat an der Sowjetunion waren 22 Monate vergangen. Für die Kommunisten im Protektorat war dies eine Zeit erzwungenen Schweigens und der Verwirrung gewesen. Auf Befehl von Moskau hatten sie auf sämtliche Aktionen verzichtet, welche die Behörden in Berlin aufbringen konnten. Am 22. Juni wechselte das Signal von Rot auf Grün. Auf einmal konnten die Kommunisten (oder die »heldenhafte Avantgarde der Menschheit«, wie sie sich selbst gerne nannten) ihrer Wut auf die »Horden der faschistischen Ungeheuer« nach Belieben freien Lauf lassen. 75 Über Kuriere und Rundfunksendungen appellierte die russische Führung an die Tschechen, von einem passiven zu einem aktiveren Widerstand überzugehen. Mitglieder des Untergrunds wurden buchstäblich gedrängt, Sand in das Getriebe der NS-Kriegsmaschinerie zu streuen, indem sie in Munitionsfabriken kleine Kieselsteine an Stellen einfügten, wo in der Regel Schmieröl zum Einsatz kommt. Die Wirkung dieses Aufrufs zum Handeln zeigte sich zwar erst im Laufe der Zeit in größerem Ausmaß, war aber von Anfang an spürbar. Woche um Woche kam
es immer häufiger zum Stillstand von Fabriken, zu Unfällen, Sabotageakten, Bränden an der Eisenbahn und NS-feindlichen Losungen auf den Wänden.
    An einem abgelegenen Ort an der schottischen Küste begann der britische Geheimdienst Special Operations Executive die Ausbildung einer ausgewählten Gruppe von Fliegern und Funkern für den Einsatz bei verdeckten Operationen. Darüber hinaus wurden Anstrengungen unternommen, das Kommunikationsnetz der Alliierten auf den neuesten Stand zu bringen. Inzwischen konnten Botschaften von Geräten, die im Westen bis nach Portugal, im Süden bis nach Kairo und im Osten bis tief in der Sowjetunion stationiert waren, gesendet und empfangen werden. Das Potenzial für koordinierte Aktionen der Widerstandsbewegungen hatte sich erhöht.
    Die BBC-Sendungen, die mein Vater beaufsichtigte, spielten ebenfalls eine dynamischere Rolle. Im September arbeiteten er und sein Team an der Formulierung und Veröffentlichung zweier Kampagnen mit. Die erste war eine »Eile mit Weile«-Initiative, die tschechische Arbeiter zum Trödeln bei der Arbeit aufforderte. »Ihr alle, die ihr in Fabriken schuftet, die von den Deutschen betrieben werden, hetzt doch nicht so«, riet Jan Masaryk. »Wenn ihr euch einmal Werkzeug holen müsst, dann rennt nicht, weil ihr außer Atem kommen könntet; und wenn ihr alle nur ein bisschen langsamer arbeitet, dann beschleunigt ihr den Sieg. Deshalb schnell und langsam, jeder erledigt seine Aufgabe in voller Zusammenarbeit mit Beneš und London.« 76
    Die zweite Initiative war ein Aufruf zum Boykott der prodeutschen Zeitungen, ein Kriterium, das wegen der Zensur inzwischen für so gut wie jede in den Straßen von Prag erhältliche Publikation galt. Beide Kampagnen starteten zu Beginn des Monats und wurden mit täglichen Appellen fortgesetzt. Die Sabotageakte und die Trödelei senkten die tschechische Industrieproduktion um schätzungsweise 30 Prozent. Der Presseboykott senkte den Verkauf von Zeitungen um mehr als die Hälfte. Auf einer Versammlung am 24. September berichtete mein Vater, die Strategie sei »ein herausragender

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