Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
besser wird?
Oder ist vergeblich das ganze Schaffen,
wenn wir sterben und das Gefühl uns verwirrt?
Wozu leben wir so leidend hier?
Warum ist die Welt wie ein großer Wall?
Nun, wisse mein Sohn, hier leben wir
um als Mann zu kämpfen, jetzt und überall! 1
HANUŠ HACHENBURG (1929–1944)
Fragezeichen und Antworten
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DER TAG DER ATTENTÄTER
Marie Moravcová (Moravec) war über vierzig, groß und üppig. Sie hatte braunes Haar, runde Wangen, muntere Augen und ein unbekümmertes Lachen, das seit der Invasion der Nazis fast völlig verstummt war. Sie lebte in einer Zweizimmerwohnung im Viertel Žižkov, einem Arbeiterviertel am Stadtrand von Prag, das nach dem Feldherrn der Hussiten Jan Žižka benannt und für seine unzähligen Kneipen bekannt war. Marie teilte die kleine Wohnung mit ihrem Mann Alois, einem pensionierten Eisenbahnarbeiter, und ihrem 21-jährigen Sohn Ata. Sie war eine gutherzige Frau, die sich ehrenamtlich in der Liga zum Kampf gegen Tuberkulose engagierte und als Sekretärin der Schwestern des Roten Kreuzes diente. Die Organisation hatte in Prag großen Einfluss, und die Mitglieder waren natürlich alarmiert, wenn Freunde aus Angst vor der Verhaftung in den Untergrund gehen mussten. Diese Familien wagten es nicht, sich für Bezugsscheine zu registrieren, und liefen deshalb nicht nur Gefahr, im Gefängnis zu landen, sondern auch zu verhungern. Die freiwilligen Helfer des Roten Kreuzes passten sich an, indem sie nichtöffentliche Treffen veranstalteten und in den Lebensmittelschmuggel einstiegen. Frau Moravcová interessierte sich eigentlich nicht für Politik, aber sie hatte Bekanntschaften in der ganzen Stadt und versicherte dem Vorsitzenden der lokalen Organisation: »Wenn Sie irgendetwas brauchen, stehe ich Ihnen zur Verfügung.« 2
Es war Februar 1942. Heydrich war nunmehr seit fünf Monaten in Prag. Der tschechische Untergrund funktionierte noch, aber die Nerven der Menschen waren aufs Äußerste gespannt. Jede Verhaftung zog neue Spekulationen nach sich: Wer konnte der Folter standhalten, wer nicht? Wie viel wusste die verhaftete Person überhaupt? Wen trifft es als Nächsten? Eines Tages erhielten die Schwestern des Roten Kreuzes eine dringende Anfrage: Konnten sie vielleicht
ein paar jungen Männern Unterschlupf bieten? Die erste, die man fragte, war Marie Moravcová.
Zuerst waren es drei, alle Ende zwanzig; sie stellten sich ihr als Kleiner Ota, Großer Ota und Zdenda vor. Marie fand für jeden eine Bleibe, wechselte dann den Ort, beschaffte ihnen Kleidung, Rasierklingen, Zigaretten und Lebensmittel. Sie stellte sie dem Hausmeister František Spinka vor, einem Hobbymünzensammler, der im Erdgeschoss wohnte und einwilligte, den Gästen, wenn sie nachts kamen und das Passwort flüsterten, die Tür zu öffnen. Spinka erklärte sich auch bereit, nach Zdendas großem schwarzem Schäferhund zu schauen. Die Fremden würden, allem Anschein nach, zu unregelmäßigen Zeiten kommen.
Was hatten sie vor? Die Männer verbrachten einen großen Teil ihrer Zeit damit, die Fahrtrouten zu erkunden, welche die Hauptstadt von Panenské Břežany trennten, dem Ort, in dem Heydrich für seine Familie einen Palast in Beschlag genommen hatte. So unauffällig wie möglich spazierten Zdenda und seine Kameraden an der Straße entlang und inspizierten die umliegenden Büsche und Baumstümpfe. Sie achteten besonders auf Plätze, wo die Straße von Panenské Břežany eine Kurve machte und entschieden sich am Ende für einen hügeligen Abschnitt, wo Autos in Richtung Prag langsam fahren mussten, bevor sie scharf rechts einbogen und eine Brücke in die Stadt überquerten. Hier war ein Wohnviertel mit engen Straßen und niedrigen Häusern, und weit und breit keine Polizeiwache. Über Kontakte zu tschechischen Bediensteten in der Burg auf dem Hradschin erhielten die Männer Einblick in Heydrichs üblichen Tagesablauf. Sie wussten, dass sein Wagen jeden Morgen und Abend diesen kurvenreichen Abschnitt passierte, gelegentlich mit einer Sicherheitseskorte, aber in der Regel ohne.
Wenn andere im Widerstand sie fragten, was sie denn vorhätten, lachten die Männer nur und antworteten, sie seien gekommen, »um die Enten auf der Moldau zu zählen«. Jeder hatte einen sorgfältig versteckten Aktenkoffer. Der Kleine Ota fand eine Freundin, eine junge Bekannte von Frau Moravcová. Der Große Ota versprach, die 19-jährige Tochter der Familie zu heiraten, in deren Wohnung er einquartiert war. Gelegentlich baten die Männer
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