Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Regenmantel ab und zielte mit einem Schnellfeuergewehr auf das Fahrzeug. Nichts geschah: Gabčiks Waffe hatte eine Ladehemmung. Statt dem Fahrer zu befehlen, Gas zu geben, zog Heydrich seine Pistole, stand auf und gab Anweisung abzubremsen. In diesem Moment trat Kubiš auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus dem Schatten und warf eine wirkungsvolle Panzerabwehrgranate gegen das rechte Hinterrad. Eine laute Explosion zerriss die morgendliche Stille. Die Bombe war ein Stück zu kurz geworfen, aber die Wucht der Detonation wirbelte Metall- und Glassplitter sowie Polsterfetzen durch die Luft und den Fahrgästen in die Eingeweide.
Bild 16
Heydrichs beschädigter Wagen
Heydrich fiel in den Wagen zurück, hielt sich mit der einen Hand den Magen und schwenkte mit der anderen seine Pistole. Kubiš schwang sich, obwohl Bombensplitter auch ihn an Brust und Stirn getroffen hatten, auf sein Fahrrad, trat wie wild in die Pedale und raste in das benachbarte Viertel Liben. Der Chauffeur sprang
aus dem Wagen und hängte sich Gabčik an die Fersen, nachdem Kubiš ihm entwischt war. Gabčik hatte inzwischen sein Schnellfeuergewehr gegen eine Pistole ausgetauscht und rannte, mit wehender Krawatte, den Hügel aufwärts in der Richtung, aus der der Mercedes gekommen war.
Die beiden Männer rannten, wechselten einige Schüsse, bis Gabčik außer Atem in eine kleine Gasse und in einen Metzgerladen flüchtete, der zu allem Übel einem Faschisten gehörte. Der verblüffte Metzger rannte auf die Straße, wo er den Chauffeur hektisch herbeiwinkte. Dieser ging hinter einem Laternenpfahl in Deckung und feuerte in den Laden. Gabčik schoss zurück – der Fahrer stöhnte vor Schmerz auf und griff nach seinem Bein. Der junge Mann sah seine Chance, sprang wieder auf die Straße und flüchtete. Diesmal wurde er von dem Metzger verfolgt, den er aber schnell abhängte.
Valčík und Opálka hingegen waren unerkannt entkommen. Am selben Abend und in den qualvollen Tagen danach waren Frau Moravcová und Führer des Widerstands im Verborgenen unterwegs, um die Attentäter zu verstecken, Kubiš’ Wunden zu versorgen und die nächsten Schritte zu planen.
Unterdessen hatte man Heydrich eilends in einem beschlagnahmten Tatra-Kleinlaster mit einem Zweizylindermoter ins Bulovka-Krankenhaus gebracht. Man hatte ihn zwischen Kisten mit Bohnerwachs und Möbelpolitur auf den Boden gelegt. In den Augen des eingeschüchterten Lastwagenfahrers sah der Verwundete »schlimm [aus], gelb wie eine Zitrone und kaum imstande, sich auf den Beinen zu halten«. 6 Ein tschechischer Arzt reinigte Heydrichs sieben Zentimeter tiefe Wunde, aber er hatte kaum angefangen, da übernahmen deutsche Ärzte die Behandlung. Sie beschlossen, dass der Patient operiert werden musste und blähten den linken Brustkorb auf. Die Spitze einer gebrochenen Rippe wurde aus der Lunge herausgezogen, der Riss im Zwerchfell genäht und die Milz entfernt, die eine Mischung aus Granatsplittern und Fasern der Polsterung enthielt.
Himmler beeilte sich, seinen verletzten Protegé im Krankenhaus zu besuchen, und schickte seinen Leibarzt, damit er sich um das Wohl des Patienten kümmerte. Eine Zeitlang schien sich Heydrichs
Zustand zu stabilisieren, aber dann bekam er Fieber. Am 3. Juni fiel er ins Koma, ehe er am nächsten Morgen um 4.30 Uhr starb. Die offensichtliche Todesursache war eine Blutvergiftung. Sein Leichnam wurde zur Aufbahrung in die Prager Burg gebracht, und am 9. Juni fand in Berlin das Begräbnis statt. Hitler hielt eine Rede und ehrte später den Toten, indem er eine SS-Einheit, die an der Ostfront im Einsatz war, nach ihm benannte.
Die Schüsse, die am 27. Mai in Prag ertönten«, erklärte mein Vater drei Tage nach dem Anschlag in einer Rundfunksendung, »waren kein Einzelereignis … sie zeigten die Spannung, die am 15. März 1939 begann.… Keine Nation kann das Schicksal von Sklaven akzeptieren oder auf das Existenzrecht verzichten. Das stolze tschechische Volk ist dazu außerstande.« 7
Der Anschlag auf den Henker von Prag, wie er im Westen genannt wurde, kam auf beiden Seiten des Atlantiks auf die Titelseite. Allerdings beanspruchte niemand das Verdienst für sich. Die Deutschen hatten bislang keine Verdächtigen aufgetrieben und noch keine eindeutigen Spuren. In London sagte Beneš nichts dazu; Jan Masaryk in New York hingegen war nicht so verschwiegen. Auf die Frage eines NBC-Reporters, ob Heydrich womöglich von einem Rivalen in der Gestapo niedergeschossen
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