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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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worden sei, konnte sich Jan Masaryk den nächstliegenden Hinweis nicht verkneifen. »Aufgrund von bestimmten Indizien, auf die ich hier nicht ausführlicher eingehen möchte«, sagte er, »bin ich absolut der Meinung, dass das tschechische Volk diese wunderbare Tat vollbrachte. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es Menschen waren, die im Land lebten, oder Menschen, die aus einem freien Land, eventuell England, kamen, um diese Pflicht gegenüber der Menschheit zu vollbringen.« Für den Fall, dass dies noch nicht eindeutig genug war, fügte Masaryk hinzu: »Sie wissen schon … es gibt so ein hübsches Ding namens Fallschirm.« 8
    Das Attentat führte zum endgültigen Bruch zwischen den Exiltschechen in London und der Marionettenregierung des Protektorats. Hácha nahm an einer Gedenkfeier für Heydrich in Prag teil, forderte die Öffentlichkeit auf, die Ermittlungen zu unterstützen,
und sprach sich für eine Belohnung für Hinweise zur Identifizierung der Mörder aus. Darüber hinaus gab er Beneš die Schuld an allem Leid, das die tschechische Bevölkerung derzeit erdulden musste, und bezeichnete den Präsidenten gar als Hauptfeind der Nation. Das war für meinen Vater zuviel. In seiner Sendung vom 30. Mai erklärte er, dass die Regierung im Exil Hácha niemals vorgeworfen habe, er sei ein »Verräter oder Quisling, weil wir uns darüber im Klaren waren, unter welchen Bedingungen das sogenannte Protektorat gebildet worden war«. Doch das Kabinett hätte, so mein Vater, lieber zurücktreten müssen, als auch nur einen Tag unter Heydrich zu dienen. »Es wäre besser gewesen, wenn sie zur rechten Zeit gegangen wären und sich diese schwere Verantwortung und Schmach erspart hätten.« 9
    Die Exilregierung in England stand während dieser Phase extreme Ängste aus. Beneš und seine Geheimdienstmitarbeiter waren über den Erfolg der Mission zufrieden, tappten aber hinsichtlich der Frage, was mit den Attentätern passiert war, noch im Dunklen. Wie man an der wachsenden Feindseligkeit gegen Hácha ablesen kann, war es wichtig, das Ringen um die öffentliche Meinung im eigenen Land zu gewinnen. Jeden Tag erinnerten die BBC-Sendungen die Tschechen und die ganze Welt an Heydrichs Verbrechen. »Die Führer des heutigen Deutschland und die ganze deutsche Nation tragen die Verantwortung«, sagte mein Vater und fügte mit einem Zitat Stalins hinzu: »Wir müssen unseren Feind von ganzem Herzen und mit ganzer Seele hassen, wenn wir ihn schlagen wollen.« 10
    Am Abend des 5. Juni war mein Vater gerade dabei, eine Nachrichtenmeldung zum Tod Heydrichs zu verlesen, als der britische Zensor die Audioübertragung mitten im Satz abbrach. Offenbar war der Text nicht sorgfältig geprüft worden. Die Reaktion meines Vaters ist nicht überliefert, aber ich stieß auf einen Hinweis. In einem Beschwerdebrief an die BBC fragte der Zensor: »Kann jemand Korbel sagen, dass er sein Geschrei für sich behalten soll?« 11 Ganz offensichtlich kochten die Emotionen hoch.
     
    Als Hitler von den Schüssen erfuhr, befahl er die Hinrichtung sämtlicher tschechischer, politischer Häftlinge, sowie die willkürliche Verhaftung von weiteren 10 000 Tschechen. Da seine Berater
ihn vor so drastischen Vergeltungsschlägen warnten, überlegte er sich die Sache noch einmal und beschränkte sich auf eine taktische, aber zumindest ebenso grausame Vergeltung.
    Lidice war ein Bergarbeiterdorf, das gut 30 Kilometer nördlich von Prag lag, nicht weit vom Landsitz der Familie Masaryk. Die Gestapo hatte einen Tipp bekommen, dass die Bewohner Fallschirmspringern geholfen hatten, möglicherweise sogar den Mördern Heydrichs. Die Meldung war falsch, aber am Abend des 9. Juni, wenige Stunden nach Heydrichs Begräbnis, umstellten SS-Soldaten das Dorf. Sie durchsuchten jedes Haus, beschlagnahmten Wertgegenstände und befahlen den Bewohnern, sich zu versammeln. Bei Morgengrauen wurden die Männer, insgesamt 173, von ihren Familien getrennt und erschossen.
    Die Frauen und Kinder wurden auf Lastwagen in eine Turnhalle in der Nachbarstadt gebracht, wo sie befragt und untersucht wurden. Ein paar ganz kleine Kinder, die blonde Haare und, nach Einschätzung der Nationalsozialisten, eine nordische Physiognomie hatten, wurden deutschen Familien gegeben, damit sie zu Deutschen erzogen wurden. Die übrigen Kinder (ungefähr 80) kamen nach Polen, zuerst nach Łódź, dann nach Chelmno, wo sie am 2. Juli in Gaskammern ermordet wurden. Die Frauen wurden in Konzentrationslager

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