Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Landes wiederherstellen. Die Sache hatte jedoch einen Haken: Während die Tschechoslowakei von Deutschland besetzt worden war, war Polen von beiden Seiten her angenagt worden. Die Deutschen konnte man nach der Niederlage zwingen, zurückzugeben, was sie erobert hatten, aber die Sowjets waren Verbündete und mussten von sich aus die Gebiete abtreten.
Damit nicht genug, entdeckten die Nazis im April 1943 im Wald von Katyn, nicht weit von der russischen Stadt Smolensk, die Leichen von 4000 polnischen Armeeoffizieren. Die Wehrmacht gab den Sowjets die Schuld an dem Massaker, die empört die Unterstellung zurückwiesen und die Nazis beschuldigten. Dieser Streit unter den Bösewichtern Europas erregte die Neugier eines jungen britischen Diplomaten, der der Sache auf den Grund ging und anschließend seine Vorgesetzten informierte, dass die Deutschen dieses eine Mal Recht hatten: Moskau war für die Hinrichtungen in Katyn und viele andere verantwortlich. Insgeheim waren sich die Engländer einig, dass Stalin ein widerwärtiger Schlächter war, allerdings hatte er so viele Menschen in seinem eigenen Land umgebracht, dass es
alles andere als ein Schock war, wenn er nun mit ein paar tausend Polen das Gleiche gemacht hatte. Öffentlich nahmen die Briten jedoch nicht Stellung dazu, weil sie Angst hatten, Stalin anzugreifen. Auf der anderen Seite des Atlantiks weigerte sich die Roosevelt-Administration, auch nur das Beweismaterial zu prüfen.
Ein Streit unter Verbündeten ist eine Gefahr für jede gemeinsame Kriegsanstrengung. Auf Drängen der Briten hin hoffte Beneš, den Streit zu schlichten, indem er sich für die Idee eines Bundesstaates nach dem Krieg starkmachte, in dem sein Land und Polen miteinander vereint wären und der auch den diplomatischen Segen der UdSSR hätte. Zu diesem Zweck unterschrieb er Anfang 1942 eine Grundsatzerklärung und begann eine Reihe von Gesprächen mit seinen polnischen Partnern. Das Projekt geriet ins Stocken, als sich die Sowjets weigerten, eine Rückgabe des Territoriums, das sie gestohlen hatten, auch nur in Betracht zu ziehen – ein Standpunkt, den die Polen für inakzeptabel hielten. Als die Wochen vergingen, wurde Beneš allmählich nervös. Er wollte auf keinen Fall die Sicherheit seines Landes von Verhandlungen abhängig machen, die zum Scheitern verurteilt waren; vielmehr würde er eigene Vorkehrungen mit Blick auf die tschechoslowakischen Interessen treffen.
Um diese Zeit dachte Beneš über eine Aufforderung der Sowjets nach, den Sitz seiner Operationen nach Moskau zu verlegen, und lehnte das Angebot ab. Die Sowjets ließen durchblicken, dass er den Ort wechseln sollte, falls er das östliche Kontingent der tschechoslowakischen Armee begleiten wolle, während es sein Vaterland befreite. Laut sowjetischen Propagandisten wuchs die Streitmacht rasch an und werde schon bald eine Stärke von 20 000 Mann haben; in Wirklichkeit war sie noch recht überschaubar und hatte kaum militärischen Wert.
Die Sowjets wollten Beneš gerne unter Kontrolle haben, deshalb der rote Teppich in Moskau, aber der Präsident konnte so einen Umzug nicht durchführen, ohne seine demokratischen Anhänger, unter ihnen mein Vater, in London zu verraten. Wegen des Krieges wurde die Rivalität zwischen den Kommunisten und anderen politischen Parteien unterdrückt; alle kämpften auf derselben Seite. Innerhalb der Exilgemeinde gab es jedoch zwei Rundfunksender, zwei
Soldatenverbände und zwei Gruppen Politiker, die versuchten, sich für die Zukunft zu positionieren. In der Heimat bestanden extrem unterschiedliche, ideologische Neigungen innerhalb des tschechoslowakischen Untergrunds. Eine Rivalität zwischen den verschiedenen Gruppen ließ sich nicht vermeiden. Beneš, der inzwischen von allen als der rechtmäßige Führer der Nation anerkannt wurde, war fest entschlossen, seinen Status zu festigen, indem er über diesem Streit stand. Er beschloss, nach Moskau zu fahren, aber nicht, um dort zu bleiben, sondern um einen Freundschaftsvertrag zu unterschreiben, der ihm eine Säule des diplomatischen Konstrukts sicherte, das er aufbauen wollte.
Die Außenpolitik jedes kleinen Landes beginnt mit der Frage: Wie können wir überleben? Diese Frage wird dann besonders akut, wenn das Land im Besitz von Ressourcen ist, auf die andere ein Auge geworfen haben, oder wenn es an einem für größere Mächte strategisch wichtigen Ort liegt. Diese Verwundbarkeit erklärt, weshalb kleine Staaten häufig zu den lautstärksten
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