Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
hübsch möblierten Zimmer wohne – die Antwort: »Seit gestern.« Sie fragten den Vorsitzenden des »Judenrates«, was seiner Meinung nach mit den Gefangenen passieren werde. »Ich weiß keinen Ausweg«, lautete die Antwort. 57 Auf eine Reihe anderer Erkundigungen folgten verwirrende Stellungnahmen, ebenso wie die Bitte, die »voll ausgestattete« Entbindungsstation zu besichtigen. Entscheidend war jedoch die Antwort auf die Frage, ob die Gefangenen nach Osten deportiert werden sollten. Nein, wurde den IKRK-Vertretern mitgeteilt, Theresienstadt sei eine dauerhafte, selbstverwaltete Gemeinschaft, ein »Endlager«, wie es hieß, kein Durchgangslager.
Aus Sicht der Nationalsozialisten hätte die Scharade kaum besser laufen können. Der Bericht, den die dänischen Repräsentanten vorlegten, gratulierte den Juden von Theresienstadt für das, was sie geleistet hatten, war aber sonst vom Ton her neutral gehalten. Die
dänischen Medien, die von den Deutschen kontrolliert wurden, nutzten die Erkenntnisse, um Gerüchte zu zerschlagen, dass Juden in Zwangsarbeitslager geschickt würden. Der Bericht des schweizerischen Beobachters Maurice Rossel richtete noch mehr Schaden an:
Die jüdische Stadt ist wirklich erstaunlich … Man fand in dem Ghetto Lebensmittel, die man nicht einmal in Prag auftreiben kann. Die gebildeteren Frauen trugen allesamt Seidenstrümpfe, Hüte, Schals und hatten moderne Handtaschen … gewiss war selten eine Bevölkerung jemals besser medizinisch versorgt, als jene in Theresienstadt. 58
Am 19. Juli 1944 veranstalteten die NS-Behörden eine Pressekonferenz für ausländische Journalisten, auf der sie mit Hilfe der Aussagen Rossels und der zugehörigen Bilder dementierten, dass die Juden misshandelt, geschweige denn vergast würden.
Einige Aspekte des IKRK-Besuchs sind noch heute rätselhaft. Rossel war kein erfahrener Inspektor. Er war im Februar eingestellt worden, erhielt im März eine Schulung und hatte zuvor noch nie eine Inspektion ohne Begleitung eines höheren Mitarbeiters gemacht. Sein Vorgesetzter in Berlin Roland Marti hatte fast zwei Jahre lang die Verhandlungen wegen des Besuchs in Theresienstadt geführt. Als es endlich so weit war, fuhr Marti einfach in Urlaub. Dafür hat das Rote Kreuz noch heute keine vernünftige Erklärung. In einer Nachricht an mich mutmaßte ein Rechercheur des IKRK, dass Marti gewusst habe, dass eine korrekte Inspektion ohnehin nicht möglich war und deshalb mit Blick auf seine künftige Glaubwürdigkeit einen Rückzieher gemacht habe.
Welche Schlüsse sollen wir heute aus dem Bericht der Delegation ziehen? Als erste Reaktion frage ich mich instinktiv, wie die Inspektoren nur so blind gewesen sein konnten, und stelle gar ihre Integrität und, im Falle Rossels, ihre Haltung gegenüber den Juden in Frage. Als Zweites beschäftigt mich die Überlegung, wie es mir an deren Stelle ergangen wäre. Als ich im Jahr 2011 Theresienstadt besichtigte, wurde mir ein Waschraum in der Kleinen Festung gezeigt. Dort waren zwei lange Reihen strahlend weißer Waschbecken,
eine Dusche und ein Wasserklosett. Wie zivilisiert, dachte ich damals, wer würde sich darüber beschweren? Dann erklärte der Rundgangsleiter: Der Waschraum war deshalb so sauber, weil er niemals benutzt worden war. Man hatte ihn nur für den Besuch des Roten Kreuzes eingerichtet, damit man ihn vorzeigen konnte, für den Fall dass die Inspektoren darauf bestehen sollten, die Kleine Festung zu besichtigen – was sie allerdings nicht taten.
Nach längerer Überlegung kann ich den Inspektoren keinen Vorwurf deswegen machen, dass sie von dem, was sie sahen und ihnen erzählt wurde, beeindruckt waren; allerdings werfe ich ihnen vor, dass sie nicht unter die Oberfläche geschaut haben. Zehntausende von Juden hatte man in den 30 Monaten vor der Inspektion nach Theresienstadt geschickt. Wo waren sie? Das IKRK kannte die Namen von vielen, die sich eigentlich im Ghetto hätten aufhalten müssen. Warum forderte man keine Interviews mit den Insassen? Wenn das Ghetto so eine Sehenswürdigkeit war, wieso verschoben die Nazis dann den Besuch so häufig? Freilich hatten die Inspektoren keine Möglichkeit, die Antwort zu überprüfen, die sie auf die zentrale Frage erhielten, ob die Juden aus Theresienstadt in Lager im Osten geschickt wurden. Aber ihre leichtgläubigen Berichte halfen, Himmlers Lüge zu untermauern.
Daraus können alle, die heutzutage Inspektionen durchführen, sei es in Gefängnissen, Ausbeuterbetrieben,
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