Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
voranzutreiben, sondern darum, eine Wahrheit vor mir zu verbergen.
Was ist es, von dem er nicht will, dass ich es erfahre?
Ist dies auch nur wieder eines meiner Hirngespinste, wie Martin und Lucius mir glauben machen wollen, oder bin ich im Gegenteil die Einzige, die die Dinge klar sieht?
Die Tagebücher, die mit meinen Aufzeichnungen kurz vor Gerties Tod beginnen, habe ich sicher verwahrt. Gegenüber Martin habe ich einen entscheidenden Vorteil: Ich bin in diesem Haus aufgewachsen. Als Kind entdeckte und schuf ich Dutzende von Verstecken, indem ich Ziegel oder Dielen lockerte und an verborgenen Stellen die Wände aushöhlte. Einige dieser Verstecke, dessen bin ich mir gewiss, wird niemand jemals finden.
Ich war so klug, meine Aufzeichnungen auf mehrere Verstecke zu verteilen – sollte er also eines entdecken, würde ihm nur ein Teil in die Hände fallen. Inzwischen schreibe ich nur noch, wenn er draußen auf dem Feld ist. Mit einem Auge beobachte ich ihn durchs Fenster, mit dem anderen bin ich bei meinen Aufzeichnungen.
Etwas Unglaubliches ist geschehen! Heute Abend, gerade eben, streckte Martin den Kopf zur Tür herein, während ich so tat, als schliefe ich. Danach hörte ich, wie er die Treppe herunterschlurfte, seinen Mantel nahm und aus der Haustür trat. Es dämmerte bereits, und lange Schatten erfüllten das Schlafzimmer, so dass Bett, Kommode und Tisch kaum noch auszumachen waren. Ich nahm an, dass er hinausgegangen war, um die Tiere zu füttern und sie für die Nacht in den Stall zu bringen.
Da vernahm ich ein Kratzen und Rascheln aus dem Wandschrank. Ich fuhr herum und wartete mit angehaltenem Atem.
Konnte es wahr sein? War mein über alles geliebtes Mädchen zu mir zurückgekehrt?
»Gertie?«, rief ich und setzte mich im Bett auf.
Langsam und knarrend öffnete sich die Tür des Schranks, und ich konnte erkennen, wie sich etwas in der Finsternis bewegte. Ich sah ein bleiches Gesicht und bleiche Hände aufscheinen, die sich jedoch gleich darauf wieder tiefer in den Schatten zurückzogen.
»Hab keine Angst, Liebes«, sagte ich zu ihr. »Bitte, komm heraus.«
Mehr Rascheln, dann das Geräusch leiser Schritte – nackte Füße auf dem Holzboden –, als sie aus dem Schrank ins Zimmer trat.
Sie bewegte sich langsam, beinahe mechanisch und ruckend wie ein alter Dampfmotor. Das Gold in ihren Haaren schimmerte im Dunkeln. Ihr Atem ging schnell und rau. Und da war auch der Geruch, den ich all die Jahre zuvor im Wald an Hester Jameson bemerkt hatte: talgig und versengt.
Ich wäre vor Freude beinahe ohnmächtig geworden, als Gertie sich neben mich auf das Bett setzte! Im Zimmer brannte keine Lampe, und draußen herrschte tiefe Dunkelheit, doch ich hätte ihre Gestalt überall wiedererkannt.
»Bin ich wahnsinnig geworden?«, fragte ich und beugte mich dichter zu ihr, um sie betrachten zu können. Ich sah nur ihr Profil, sie hatte das Gesicht leicht abgewandt. »Bist du eine Einbildung?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sag mir die Wahrheit«, flehte ich sie an. »Sag mir, was wirklich geschehen ist. Wie bist du in den Brunnen gekommen?« Meine Finger schmerzten vor Sehnsucht, sie zu berühren, sich in ihrem goldenen Haar zu vergraben. Doch irgendwie wusste ich, dass ich es nicht tun durfte. Und vielleicht (jetzt, da ich wieder allein bin, gebe ich es zu) fürchtete ich mich auch ein wenig.
Sie wandte sich zu mir um, und in der Finsternis sah ich ihre Zähne aufscheinen, als sie lächelte.
Dann erhob sie sich, trat ans Fenster und legte ihre bleichen Hände an das mit Reif überzogene Glas.
Ich stand auf, kam neben sie und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Schwärze hinaus. Eine Mondsichel ging eben auf. Martin trat, die Schaufel in der Hand, aus der Scheune. Er sah zum Haus hoch, und ich duckte mich wie ein Kind, das Verstecken spielt. Er hatte mich wohl nicht gesehen, denn er ging weiter über den Hof.
Ich wusste genau, wohin.
Ich wollte Gertie fragen, was ich als Nächstes tun sollte, doch sie war fort. Als ich den Blick wieder aufs Fenster richtete, sah ich die geisterhaften Abdrücke ihrer Hände auf dem Glas.
Martin
31. Januar 1908
Schweiß sammelte sich zwischen seinen Schulterblättern, als die Schaufel die Harschdecke durchstieß. Er musste fast achtzehn Zoll durch Schnee und Eis in die Tiefe graben, bevor er den Erdboden erreichte. Der Schnee war nass und schwer. Er arbeitete zügig, stach die Schaufel in den Schnee, lud sie voll, warf den Schnee beiseite.
Sein verkrüppelter
Weitere Kostenlose Bücher