Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
erklärte Martin, hob das Gewehr auf und drehte es so herum, dass der Lauf auf seine eigene Brust zielte. »Gertie war es.«
Martin schloss die Augen und drückte ab. Gleich darauf spürte er, wie er endlich ins Bett fiel, warm und geborgen neben seiner geliebten Sara. Gertie war unten im Flur und sang ein Lied, ihre Stimme war hell und klar wie die eines Sperlings. Sara schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Ist es nicht schön, zu Hause zu sein?«
4. Januar
Gegenwart
Ruthie
»Schneller«, trieb Candace sie an. »Bleibt hinter mir. Ich will nicht, dass noch jemand verlorengeht.«
Sie bewegten sich durch einen schmalen Gang. Candace war vorn, mit eingeschalteter Stirnlampe, die Pistole in der rechten Hand. Es war unmöglich festzustellen, in welche Richtung Katherine verschwunden war, also hatten sie sich einfach für den Tunnel entschieden, in dessen Nähe Katherine zuletzt gestanden hatte.
»Katherine?«, rief Candace. »Alice?«
Der Tunnel schien abwärts zu führen, tiefer unter die Erde. Die Luft fühlte sich schwerer, dumpfer an. Die Wände waren schroffer Fels, der Boden voller Unebenheiten. Wenigstens konnten sie aufrecht gehen.
Ruthie konzentrierte sich darauf, möglichst ruhig und gleichmäßig zu atmen. Bei jedem Ein- und Ausatmen zählte sie im Kopf eins-zwei-drei . Sie setzte einen Fuß vor den anderen und versuchte nicht daran zu denken, wo sie war, sondern einzig und allein daran, was sie tun musste: Fawn beschützen und ihre Mutter finden.
»Candace … vielleicht wäre es besser, nicht ganz so laut nach ihnen zu rufen«, gab Ruthie zu bedenken. »Nur für den Fall, dass noch jemand hier unten ist. Jemand, dessen Aufmerksamkeit wir nicht auf uns ziehen wollen?«
Candace fuhr herum und funkelte Ruthie an. »Wer hat hier das Sagen?«, blaffte sie.
Ruthie ließ die Hand in die Tasche ihres Parkas gleiten und schloss die Finger um den Griff des Revolvers.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie Fawn.
Ihre kleine Schwester nickte, doch selbst im trüben Licht konnte man sehen, dass ihr Gesicht gerötet war. Ruthie legte ihr die Hand an die Stirn – Fawn glühte. Mist. Ruthie hatte den Fiebersaft vergessen. Was passierte mit einem Kind, wenn das Fieber immer höher stieg? Krampfanfälle, womöglich Hirnschäden?
Sie musste Fawn hier rausbringen. Sie würde ihr Medizin geben, sie ins Bett legen und eine Freundin bitten, auf sie aufzupassen, und dann würde sie mit Buzz zusammen noch mal in die Höhle steigen, um nach ihrer Mutter zu suchen.
»Mimi meint, das hier ist ein böser Ort«, sagte Fawn. Ihre Augen waren glasig und trübe. »Sie sagt, wir werden nicht alle lebend hier rauskommen.«
Ruthie bückte sich und schaute ihrer Schwester in die Augen. »Wir kommen hier wieder raus, Fawn. Versprochen. Und zwar bald.«
»Schh!«, zischte Candace und hielt unvermittelt an, die linke Hand warnend erhoben. Sie kamen hinter ihr zum Stehen und horchten.
»Habt ihr das gehört? Schritte! Da vorn. Los, weiter!« Candace eilte davon. In ihrer Aufregung schien sie die Mädchen ganz zu vergessen. Ruthie nahm Fawn bei der Hand und schlich ihr nach. Kurz darauf kamen sie an einen schmalen Tunnel, der rechts von ihrem Tunnel abzweigte. Candace war ihnen schon weit voraus, das Licht ihrer Lampe tanzte an den Wänden. Ruthie griff die kleine heiße Hand ihrer Schwester fester und zog sie in den Seitentunnel. Sie musste den Kopf einziehen, um hineinzupassen.
»Los«, wisperte sie, bevor sie in einen langsamen Trab fiel und Fawn hinter sich herzog. Sie schaltete die Taschenlampe ein, um den Weg erkennen zu können. Sie liefen so schnell es ging.
»Wo gehen wir denn hin?«, wollte Fawn wissen. »Ich dachte, wir sollen alle zusammenbleiben.«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, gab Ruthie zurück. »Diese Candace hat ein paar Schrauben locker.«
»Was?«
»Egal, bleib einfach bei mir, okay? Ich bringe uns hier raus. Höhlen können mehr als einen Ausgang haben, stimmt’s?«
»Kann schon sein.« Dann flüsterte Fawn ihrer Puppe Mimi etwas zu, was Ruthie nicht verstehen konnte.
Der Tunnel war hoch genug, dass Ruthie aufrecht stehen konnte, wurde allerdings nach einer Weile so schmal, dass sie kaum noch hindurchpasste – sie musste sich die Jacke ausziehen, den Revolver in die Hand nehmen und sich seitwärts weiterschieben. Bauch und Hintern schrammten schmerzhaft an den Felswänden entlang. Sie hielt den Revolver zu Boden gerichtet in der rechten Hand, in der Linken hatte sie die
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