Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
der Gewissheit sterben, dass Sara ihn einer solchen Gräueltat für schuldig hielt. Also hatte er sich aus dem Schnee hochgerappelt und an den mühsamen Abstieg gemacht.
Bei jedem Atemzug brannte die Wunde in seiner linken Seite. Die Kugel hatte ihn direkt unterhalb der Rippen getroffen. Blut sickerte durch sein Hemd und den dicken wollenen Mantel. Er konnte nicht aufhören zu zittern.
Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, das Blut rann aus der Wunde, und sein Atem rasselte, als er sich über den Acker schleppte. Der verfluchte Acker, wo nichts wachsen wollte. Jahr um Jahr hatte er gepflügt, gedüngt und sorgsam die Saat ausgebracht, die trotz all seiner Bemühungen nie aufging. Alles, was der Boden hervorbrachte, waren Steine, Scherben von Tellern, alte Blechbüchsen und einmal ein wunderschöner, aus Bein geschnitzter Ring.
Er sah zum Haus und erinnerte sich daran, wie er Sara über die Schwelle getragen hatte, als sie frisch vermählt waren. Wie sehr er in sie verliebt gewesen war. Sara mit ihrem wilden rotbraunen Haar und den funkelnden Augen. Sara, die in die Zukunft blicken konnte. Er erinnerte sich an sie als kleines Mädchen auf dem Schulhof, als sie zu ihm gesagt hatte: »Martin Shea, du bist der, den ich einmal heiraten werde.« Wie er ihr diese alberne kleine Glasmurmel geschenkt hatte. Sie bewahrte sie noch immer in einer kleinen Dose auf, zusammen mit Gerties Milchzähnen und einem silbernen Fingerhut, der ihrer Mutter gehört hatte.
Bilder ihres gemeinsamen Lebens schienen in seinem Kopf und seinem Herzen auf: die Weihnachtsfeste; das eine Mal, als sie zum Tanzen im Ballsaal von Barre gewesen waren und auf dem Heimweg das Rad gebrochen war, so dass sie die Nacht im Wagen hatten verbringen müssen, unter ihre Mäntel gekuschelt und glücklich. Es gab auch schmerzhafte Erinnerungen: die Kinder, die in Saras Bauch gestorben waren. Der Verlust ihres kleinen Charles; wie Sara ihn im Arm gehalten und sich geweigert hatte, ihn loszulassen, weil sie nicht hatte einsehen wollen, dass er tot war. Und natürlich der Tod ihrer über alles geliebten Gertie.
»Sara«, stöhnte Martin, als er an der Scheune vorüberkam. Seine Schritte knirschten im Schnee. »Meine Sara.« Er stürzte, und als er mühsam wieder auf die Beine kam, blieben im Weiß des Schnees rote Schlieren zurück. Sie sahen aus wie die Abdrücke von Flügeln.
Vielleicht stand sie in der Tür und wartete mit dem Gewehr auf ihn. Vielleicht hatte er nichts anderes verdient.
Du hast es fast geschafft, Martin , sagte er zu sich selbst.
Ja, er war beinahe zu Hause. Er wünschte sich so sehr, hineinzugehen, ein letztes Mal die Treppe hinaufzusteigen und sich ins Bett zu legen. Er wollte, dass Sara ihn mit Quilts zudeckte, sich neben ihn legte und ihm übers Haar strich.
Törichte Wünsche.
Erzähl mir eine Geschichte , würde er sie bitten. Eine Abenteuergeschichte; die Geschichte unseres gemeinsamen Lebens.
Als er über den Hof kam, sah er eine Gestalt hinter dem Haus, in der Nähe des kleinen Friedhofs. Als die Gestalt ihn bemerkte, schlüpfte sie hinter den alten Ahornbaum.
Er ging näher.
»Hallo?«, rief er matt. »Sara?«
Doch da war niemand.
Er musste sich getäuscht haben.
Was für eine überbordende Phantasie er als Junge gehabt hatte. Ein Junge mit dem Herz eines Helden. Ein Junge, der genau gewusst hatte, dass große Abenteuer auf ihn warteten.
Er hörte hinter sich die Haustür aufgehen, und als er den Kopf wandte, sah er Sara die Stufen herunterkommen. Sara, seine Sara. Strahlend wie immer.
Doch etwas war anders als sonst. Etwas stimmte nicht. Ihre Bewegungen waren abgehackt, ihr Gesicht eine Maske der Angst.
Hinter ihr trat eine alte Frau durch die Tür. Sie hielt Martins Gewehr in den Händen und stieß Sara den Lauf in den Rücken.
»Sara?«, rief Martin, als er sich ganz zu ihnen umdrehte. »Was ist los? Wer ist das?«
Sara hob den Kopf. »Die Frau, die unsere Kleine getötet hat«, sagte sie. Unendliche Qual lag in ihrem Blick. »Oh Martin, verzeih mir, dass ich gedacht habe, du seiest es gewesen.«
Und du mir dafür, dass ich dasselbe über dich dachte , fügte er im Stillen hinzu.
Er sah, wie sich das Gesicht der bösen Alten zu einem widerlichen Lächeln verzog, und wusste, dass er etwas tun musste. Selbst wenn dies seine letzte Tat auf Erden war, er musste seine Frau retten. Seine wunderschöne Sara. Wie hatte er jemals denken können, dass sie fähig wäre, Gertie ein Leid anzutun? Er hatte sich
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