Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
geirrt. So schrecklich geirrt.
Seine letzten Kräfte sammelnd, sprang Martin vor, die Hände nach dem Gewehr ausgestreckt. Doch irgendwie geschah es, dass er es nicht zu fassen bekam.
Wie konnte es sein, dass er es nicht zu fassen bekommen hatte?
Schon wieder hatte er Sara enttäuscht. Vermutlich zum letzten Mal.
Die Alte lachte, drehte das Gewehr um, schwang es wie einen Knüppel und schlug ihm den Kolben gegen die Brust, genau dort, wo seine Wunde war.
Mit einem Aufheulen fiel er zu Boden. Dort rang er verzweifelt nach Luft und versuchte nachzudenken, trotz der Schmerzen, die ihn erfüllten, die in jeder Faser seines Körpers widerhallten. Er unternahm einen Versuch, auf die Knie zu kommen, fiel jedoch gleich wieder in sich zusammen. Erneut hob die Alte das Gewehr und stieß es ihm ein zweites Mal gegen die Brust. Er merkte, wie es um ihn herum schwarz wurde, wie er an einen dunklen, warmen Ort hinabglitt.
Ins Bett. In ihr gemeinsames Bett, tief unter die Decke, mit Sara in seinen Armen.
»Bitte«, flehte Sara schluchzend. »Hör auf!«
»Nicht ehe ich fertig bin«, fauchte die Alte. »Nicht ehe alles, was du hast, vernichtet ist.«
Sara. Martin versuchte ihren Namen über die Lippen zu bringen. Ihr zu sagen, dass alles gut war. Er verdiente es nicht anders. Sie, sie hatte etwas Besseres verdient als ihn. All das wollte er ihr sagen. Wie leid es ihm tat. Er hob den Kopf, schlug die Augen auf und sah eine weitere Gestalt über den Hof kommen. Eine kleine Gestalt, die sich ihnen mit langsamen, schleppenden Schritten näherte.
Ein Kind. Ein Mädchen mit blonden Haaren in einem langen Kleid.
Es hielt eine Axt in den Händen. Martins Axt. Die Axt, mit der er Holz spaltete und Hühner schlachtete. Er achtete stets darauf, dass die Klinge so scharf war, dass sie Papier schneiden konnte. Er war gut darin, Dinge zu pflegen, dafür zu sorgen, dass sie lange hielten.
Aber für deine Frau und Tochter konntest du nicht sorgen, nicht wahr?
Das Mädchen kam immer näher und blieb schließlich hinter der Alten stehen, die das Gewehr herumgedreht hatte und nun wieder auf Sara zielte.
Als das Mädchen die Axt über den Kopf hob, wandte es sich Martin zu, so dass er sein Gesicht ganz deutlich im Mondlicht sah.
Das konnte nicht sein. Das war einfach nicht möglich.
»Gertie?«
Mit aller Kraft ließ sie die Axt auf den Hinterkopf der Alten niederkrachen. Blut spritzte ihr ins Gesicht. Das Gewehr fiel zu Boden, die Alte sackte in sich zusammen, und im nächsten Moment hatte sich das Mädchen (Gertie? Nein, es konnte unmöglich Gertie sein!) auf sie gestürzt und begann ihr Kleider und Haut vom Körper zu reißen.
Martin schloss die Augen. Er wollte, dass alles vorbei war.
»Martin? Martin?« Jemand rüttelte ihn, schlug ihm ins Gesicht. Seine Lider hoben sich. Er lag auf dem Hof im Schnee und war halb erfroren, obgleich er die Kälte nicht länger spürte.
Lucius blickte auf ihn herab. In seiner Miene stand das blanke Entsetzen. Lucius, der immer so ruhig und beherrscht war, zitterte am ganzen Leib. Sein weißes Hemd war zerknittert und blutbefleckt. »Guter Gott, Martin, was hast du getan?«
Ich bin verletzt , versuchte Martin zu sagen. Er wusste, dass er bald sterben würde. Er sah es in Lucius’ Gesicht. Seine Brust fühlte sich schwer an, sein Atem war ein feuchtes Rasseln. Als er hustete, kam ein feiner Sprühnebel Blut aus seinem Mund.
»Sara«, ächzte er. Er griff nach der Hand seines Bruders und umklammerte sie fest. »Versprich mir, dass du dich um meine Sara kümmerst.«
»Dafür ist es ein wenig spät, Bruder«, erwiderte Lucius. Er entzog Martin seine Hand, und sein Blick glitt über Martin hinweg zu etwas hinter ihm.
Martin stützte sich auf den Ellbogen. Der Mond war höher gewandert und übergoss den Hof mit seinem klaren blauen Licht.
Keine zehn Fuß entfernt sah er einen Haufen zerfetzter, blutiger Kleider liegen: Saras Kleid, ihr Mantel.
»Nein«, wimmerte er.
Neben den Kleidern lag die Leiche einer Frau. Sie war gehäutet worden – das Fleisch glänzte nass, der Schädel leuchtete im Mondschein – und lag in einem Bett aus blutigem Schnee.
Martin wandte sich ab und erbrach sich. Die Krämpfe gingen als ein reißender Schmerz durch seine offene Brust.
Dann sah er das Gewehr.
»Wie konntest du nur so etwas tun?«, fragte Lucius, dessen Stimme zu versagen drohte. Er hatte angefangen zu weinen. Seit ihrer Kindheit hatte Martin seinen Bruder nicht weinen sehen.
»Ich war es nicht«,
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