Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
lebendig war? Du weißt nichts über den Wahnsinn der Toten. Jetzt gibt es kein Bett mehr, an das man mich fesseln kann, Doktor«, zischelte ich ihm ins Ohr.
Manchmal gehe ich bis hinaus zur Moosbeerenwiese und sitze an Martins Grab. Ich rede stundenlang mit ihm, bis die aufgehende Sonne den Himmel im Osten färbt. Ich erzähle ihm alles, was sich zugetragen hat, was aus mir geworden ist. Meistens sage ich ihm, wie unendlich leid es mir tut.
Auntie die Haut abzuziehen war meine Idee gewesen. Nachdem Gertie mit ihr fertig war, wusste ich, dass wir etwas tun mussten, um die wahren Geschehnisse zu verschleiern – Aunties Körper war zerfleischt, ihre Haut von Nägeln und Zähnen zerrissen, wie von einem wilden Tier und doch anders. Ich hoffte, dass man die Leiche finden und sie für meine halten würde. Auntie und ich waren zwar unterschiedlich alt, hatten jedoch denselben zierlichen Körperbau.
In gewisser Weise war es nicht schwieriger, als ein Tier zu häuten, und das ist etwas, worin ich viel Übung habe; Auntie selbst hat dafür gesorgt. Es war seltsam, wie leicht es mir fiel, in einem Menschen nichts als ein Tier zu sehen. Eine Arbeit, die getan werden musste.
Auntie hat recht behalten: Nun, da sie fremdes Blut vergossen hat, ist Gertie immer noch hier. Ohne Zweifel wird sie bis in alle Ewigkeit weiterleben.
Die Wahrheit jedoch ist, dass sie bloß ein Schatten des Mädchens ist, das sie einmal war. Manchmal erhasche ich hinter den trüben Augen der Kreatur, in deren Körper es gefangen ist, einen Blick auf mein geliebtes Kind.
Wenn ich sie erlösen könnte, würde ich es tun.
Doch das Beste, was ich tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass sie sicher ist, und dass die Welt sicher vor ihr ist. Und vor anderen wie sie.
Soweit ich weiß, ist sie die Einzige. Doch hin und wieder steigt jemand auf den Hügel. Jemand, der einen Ehemann oder ein Kind verloren hat, jemand, der irgendwie vom Geheimnis der Schlafenden und der Pforte hier in West Hall erfahren hat. Es sind fast immer Frauen, obgleich es auch ein oder zwei Männer gab. Manchmal reicht meine bloße Anwesenheit, um sie zu verjagen oder von ihrem Vorhaben abzubringen. Doch mitunter kann ich nichts tun oder sagen, um sie am Betreten der Höhle zu hindern, wo sie versuchen wollen, ihre Lieben zurück ins Leben zu rufen. In solchen Fällen überlasse ich es Gertie, sich um sie zu kümmern.
Es mag grausam erscheinen, jemanden in den Tod zu schicken. Doch es genügt ein Blick in die leeren, hungrigen Augen des Wesens, das einst mein kleines Mädchen war, um zu begreifen, dass es Schlimmeres gibt als den Tod.
Ungleich Schlimmeres.
4. Januar
Gegenwart
Ruthie
Ruthies Schädel pochte. Ihr Körper fühlte sich an, als bestünde er aus kaltem, hartem grauem Marmor. Auf steifen Beinen folgte sie ihrer Mutter durch enge, sich windende Felsgänge.
Aus Fawn sprudelte eine Frage nach der anderen hervor. »Wovor laufen wir eigentlich weg? Wer hat dich gefesselt? Wo führst du uns hin?«
»Schhh, Liebes«, sagte ihre Mom immer wieder. »Nicht jetzt.«
Auch Katherine hatte Fragen. »Sie haben sich mit Gary getroffen, meinem Mann. Warum war seine Kameratasche in Ihrem Haus?«
Die Mutter wischte alle Fragen mit einem Stirnrunzeln beiseite. »Still«, warnte sie. »Wir müssen ganz still sein.«
In Ruthies Kopf spukte nur eine einzige Frage herum: Wo zum Teufel war Candace, und weshalb hatte sie so geschrien?
Da kommt was.
Das Vorwärtskommen wurde schwerer: enge Durchgänge, riesige Felsbrocken, über die sie kriechen oder an denen sie sich vorbeizwängen mussten. Fawn hatte sich Mimi vorsichtshalber vorn in den Pullover geschoben und sah nun absurderweise aus wie eine schwangere Sechsjährige.
Ihre Mutter lief mit der Taschenlampe und dem Revolver vorneweg, blieb jedoch immer wieder stehen und nahm jede Abzweigung genau in Augenschein, als wäre sie nicht ganz sicher, in welche Richtung sie sich wenden mussten. Ruthie hätte am liebsten geschrien. Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für die notorische Unentschlossenheit ihrer Mutter.
Allmählich beschlich sie das Gefühl, dass der Tunnel in einem großen Kreis verlief.
»Mom, sind wir hier nicht eben schon mal vorbeigekommen?«, rief sie nach vorn.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ihre Mutter und ließ den Strahl der Taschenlampe umherwandern.
»Ich dachte, Sie kennen den Weg«, meldete sich Katherine zu Wort.
»In diesem Teil war ich nur ein paar Mal«, gestand Ruthies Mom.
»Mom, ich
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