Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Seiten zu vernichten. Wir hatten das Gefühl, dass es uns nicht zusteht. Also haben wir sie versteckt, bei Gertie, damit sie sie bewachen konnte. Candace gegenüber haben wir behauptet, sie seien verschwunden – sie wollte sie ja nur verkaufen, um Kapital daraus zu schlagen. Wir wussten, dass es irgendwo da draußen noch weitere Seiten gab – die eigentliche Anleitung und die Karte – und dass sie eines Tages wieder auftauchen würden.«
»Gary hat sie gefunden«, sagte Katherine. Sie sah müde aus und war totenbleich. Ihr Gesicht, selbst ihre Lippen hatten jede Farbe verloren. »Und er ist mit ihnen hierhergekommen. Er hatte Aunties Brief an Sara und die Karte mit dem Weg zur Pforte, die sie gezeichnet hatte.«
Ruthies Mutter nickte und starrte erneut in ihren Kaffeebecher. »Er kam zum Farmhaus, nachdem er die Höhle entdeckt hatte – die Karte aus Saras Tagebuch hatte ihn hingeführt. Er hatte Gertie da draußen gesehen, sie sogar fotografiert. Er wusste über alles Bescheid. Und er war wild entschlossen, nach Hause zu fahren, etwas zu holen, das seinem Sohn gehört hatte, zurückzukommen und ihn aufzuwecken. Er war nicht davon abzubringen. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass es gefährlich ist, dass es schreckliche Folgen haben kann. Wir sind im Streit auseinandergegangen, und ich bin ihm in die Stadt nachgefahren. Ich habe ihn angefleht, noch einmal mit mir über alles zu reden. Wir haben gemeinsam zu Mittag gegessen. Ich habe getan, was ich konnte, um ihn umzustimmen. Ich habe ihm von Gertie erzählt. Meine Güte, ich habe ihm sogar Geld angeboten – nicht, dass ich welches gehabt hätte. Er wollte einfach keine Vernunft annehmen.«
Katherine drehte den Ring am Finger, den sie über ihrem goldenen Ehering trug. Aunties Ring.
Ruthies Mutter rieb sich die Augen. »Ich bin ihm an dem Nachmittag hinterhergefahren. Ich wusste nicht, was ich noch machen sollte. Ich dachte, dass ich ihn vielleicht zum Anhalten bewegen könnte, dass es mir irgendwie gelingen würde, ihn aufzuhalten. Ich durfte ihn nicht mit diesen Fotos nach Boston zurückfahren lassen. Wenn er jemandem davon erzählte, wenn es sich herumsprach …«
Sie ließ den Kopf hängen, und ihr Oberkörper sackte wie gebrochen nach vorn. Fawn sah verständnislos ihre Mutter, dann Ruthie und schließlich Katherine an.
»Er fuhr so schnell. Wenn ich nicht so dicht aufgefahren wäre, dann …«
»Sie … Sie haben den Unfall gesehen?«, fragte Katherine und schwankte leicht auf ihrem Stuhl. Sie legte eine Hand auf die Tischplatte, als müsse sie sich abstützen.
Ruthies Mutter nickte und blickte auf ihre Hände, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Er war genau vor mir und fuhr um eine Kurve. Er war zu schnell und hat die Kontrolle über den Wagen verloren. Es kam so plötzlich, man hätte es unmöglich verhindern können. Ich habe angehalten und bin hingerannt, aber als ich beim Wagen ankam, wusste ich, dass man nichts mehr für ihn tun konnte. Er war tot.«
Katherine stieß ein leises Schluchzen aus und vergrub das Gesicht in ihren Händen.
»Sein Rucksack lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Ehe ich darüber nachdenken konnte, hatte ich schon durchs Fenster gegriffen und ihn an mich genommen.«
Die Mutter hob den Kopf und sah Ruthie an. Ihre blauen Augen waren voller Tränen, doch dahinter war ein Ausdruck eiserner Entschlossenheit. »Ich durfte nicht zulassen, dass jemand die Unterlagen oder die Fotos auf seiner Kamera findet. Ich hatte vor, die Papiere zusammen mit den anderen Sachen oben in der Höhle zu verstecken, wo niemand sie je finden würde. Sie haben ja keine Ahnung, wozu ein Schlafender fähig ist. Wenn das Wissen bekannt würde, wenn mehr von ihrer Sorte erschaffen würden …« Die Mutter schüttelte den Kopf. »Können Sie sich vorstellen, was das für Konsequenzen hätte?«
Alle wandten sich zu Katherine um und sahen sie abwartend an. Sie saß mit versteinerter Miene da und blickte mit dunklen leeren Augen ins Leere.
»Vermutlich«, sagte sie schließlich und stand auf. Sie schwankte ein wenig und war noch immer erschreckend bleich, »tun wir alle nur das, was wir für das Beste halten. Manchmal machen wir schreckliche Fehler, manchmal tun wir das Richtige. Manchmal wissen wir es selbst nicht und können nur hoffen.« Damit wandte sie sich ab und wollte die Küche verlassen, allerdings blieb sie noch einmal stehen. »Können Sie mir noch eine Sache sagen?«, fragte sie.
»Alles, was Sie wollen«, versicherte Ruthies
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