Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
…«, setzte Ruthie an. Sie wollte vorschlagen, kehrtzumachen und zu versuchen, denselben Weg zurückzugehen, den sie hereingekommen waren.
»Pst … lass mich nachdenken«, sagte ihre Mutter ungehalten.
Ruthies Kleider waren schweißnass, und sie fror bis auf die Knochen. Ihre Zähne klapperten, alles tat höllisch weh. Sie fühlte sich benommen, ihr Kopf war wie leergefegt, und es gab nur eine einzige Sache, die sie mit Sicherheit wusste: Sie musste schleunigst aus dieser Höhle raus.
»Ich glaube, ich spüre einen Luftzug«, sagte Katherine plötzlich, wandte sich nach links und ging ein paar Schritte.
»Da waren wir doch schon«, meinte Ruthie.
»Nein, glaube ich nicht«, rief Katherine zurück. Sie ging jetzt schneller, rannte fast, stieg über Steine hinweg und prallte wie eine Flipperkugel gegen die schartigen Felswände. Dann bog sie um eine Kurve und war verschwunden. Ruthie und Fawn gingen ihr nach, ihre Mutter folgte mit einigen Schritten Abstand.
»Katherine!«, rief Ruthie. »Warten Sie!«
»Oh mein Gott!«, schrie Katherine von weiter vorn. Ihre Stimme klang schrill und verängstigt. »Nein!«
Als sie um die Kurve bogen, erhaschte Ruthie einen Blick auf das, was Katherines Taschenlampe anstrahlte. Wie erstarrt blieb sie stehen. Dann bückte sie sich, riss ihre Schwester auf den Arm und drückte sie an sich.
»Fawn, mach die Augen zu«, befahl sie. »Und mach sie erst wieder auf, wenn ich’s dir sage, hast du gehört?«
»Ist gut«, murmelte Fawn.
»Versprochen?«
»Ich schwöre«, sagte Fawn und umklammerte Ruthies Schultern fester.
Langsam wagte sich Ruthie weiter vor.
Katherine stand neben Candace, die auf dem Rücken und mit geöffneten Augen am Boden des Tunnels lag. Die Pistole lag neben ihr, genau wie die noch eingeschaltete Taschenlampe, deren Strahl den Felsboden erleuchtete. Ihre Kehle war aufgeschlitzt, geradezu zerfetzt worden. In der rechten Hand hielt sie die verschollenen Tagebuchseiten.
»Sie hat gefunden, wonach sie suchte«, murmelte Ruthie, ohne zu merken, dass sie es laut sagte.
»Mein Gott«, hauchte Katherine und wich zitternd einen Schritt zurück.
»Was ist da?«, fragte Fawn. Ihre kleinen Finger kneteten Ruthies Schultern, kniffen und verdrehten ihr durch all die vielen Kleidungsschichten hindurch die Haut.
»Mach dir keine Sorgen, kleines Reh«, sagte Ruthie. »Lass einfach die Augen zu.«
Ruthies Mutter hatte sie eingeholt.
»Sie sieht aus, als hätte ein Tier ihr den Hals zerfleischt«, raunte Katherine, beugte sich herunter und richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf Candaces offene Kehle.
»Kein Tier«, erklärte Ruthies Mutter. Sie ging in die Hocke und nahm die blutbespritzten Tagebuchseiten an sich. »Wir müssen weiter.«
»Merkt ihr das?«, fragte Katherine. »Da ist definitiv ein Luftzug, er kommt von da unten.« Sie umrundete Candaces Leiche und eilte, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Gang entlang.
Ruthie folgte ihr. Fawn klammerte sich an sie wie ein kleines Äffchen. Ja, da war ein leichter Wind, die Luft fühlte sich irgendwie anders an. Auch sie schaute nicht zurück, und doch war sie sich ganz sicher, dass Augen sie aus den Schatten heraus beobachteten.
Ruthie
Ruthie saß mit ihrer Mutter, Fawn und Katherine zu Hause am Küchentisch. Mom hatte Kaffee aufgesetzt und Bananenbrot aus der Tiefkühltruhe geholt; eigentlich hätte der Duft auf Ruthie beruhigend wirken sollen, stattdessen drehte sich ihr davon der Magen um. Es war einfach alles zu viel. Aus der dumpfen, dunklen Stille der Höhle plötzlich wieder in einer Welt voller Licht und Farbe, Gerüche und Geräusche zu sein überforderte sie. Die Kaffeetassen und Kuchenteller waren unberührt.
Ihre Mom hatte Fawn Fiebersaft und eine Tasse Kräutertee gegeben und versucht, sie ins Bett zu bringen, aber Fawn hatte sich gesträubt. Sie wollte auf keinen Fall etwas verpassen. Jetzt saß sie zwischen Ruthie und ihrer Mutter auf ihrem Stuhl, hatte Mimi auf dem Schoß und bemühte sich krampfhaft, die Augen offen zu halten.
Katherine hatte Ruthies Mutter Tausende Fragen über Gary gestellt, und Fawn hatte wissen wollen, wie sie in die Höhle gekommen sei und wer sie gefesselt habe. »Ich erzähle euch die ganze Geschichte von Anfang an«, hatte Mom versprochen. Und jetzt endlich war es so weit.
»Dein Vater und ich sind vor sechzehn Jahren hierhergekommen. Unsere Freunde Tom und Bridget haben uns gerufen, sie sagten, ihnen wäre etwas in die Hände gefallen, was die Welt verändern
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