Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
und wandte sich um. Im Scheuneneingang stand Sara. Sie kam langsam auf ihn zu. Er fuhr hoch und verstellte ihr den Blick auf das Haar.
»Was machst du da?«
»Ich … hole den Sattel.«
Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag sprach er ein Gebet: Bitte, Gott, mach, dass sie das Haar nicht sieht .
Er durfte nicht zulassen, dass Sara den Zopf sah – es würde sie umbringen. Er musste ihn vor ihr verbergen. Ihn in den Bach werfen, damit das Wasser ihn forttrug.
»Beeil dich«, sagte Sara. »Es wird bald dunkel.« Zum Glück verließ sie daraufhin die Scheune.
Martin drehte sich um und griff mit zitternden Händen nach dem dicken blonden Zopf. Er zog ihn von dem rostigen Nagel und steckte ihn in die Tasche seiner Jacke.
Sobald er die Stute gesattelt hatte, führte er sie aus der Scheune nach draußen in den tiefen Schnee. Sie würden nur mühsam vorankommen, und er hoffte, dass die Hauptstraßen in der Zwischenzeit gewalzt worden waren.
Es war denkbar, sagte Martin sich, dass ein Tier in die Scheune eingedrungen war und den Fuchspelz von der Wand gerissen hatte. Ein Kojote oder ein streunender Hund. Doch dann langte er in seine Tasche und befühlte den dicken Zopf. Für die Haare am Nagel hatte er keine Erklärung.
»Martin?«
Schon wieder Sara, die vor dem Haus auf ihn wartete. Sie stand links neben der geöffneten Tür, wiegte den Oberkörper vor und zurück und riss an der Haut um ihre Fingernägel. Ihr Blick war wild und verzweifelt.
»Du musst wieder hineingehen, Sara. Du bist nicht für dieses Wetter angezogen.«
Sie nickte, wandte sich zum Haus, hielt dann jedoch inne.
»Martin?«
»Ja?« Ein Kloß formte sich in seiner Kehle. Hatte sie die Haare doch gesehen?
»Es ist wegen des Rings.«
»Was?«
Sie blickte nicht auf ihn, sondern auf den Schnee zu ihren Füßen. »Der Ring, den du auf dem Acker gefunden hast. Den du mir zu Weihnachten schenken wolltest. Ich weiß, dass du ihn noch hast.«
Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass er ihn behalten hatte. Dass er zu selbstsüchtig gewesen war, um ihre Bitte zu erfüllen und ihn wieder zu vergraben. Und nun war er bei seiner Lüge ertappt worden. Er brachte kein Wort heraus.
Saras Atem stand in weißen Dampfwolken in der Luft. Ihre Haut war bleich, ihre Lippen blau vor Kälte. »Es war nicht recht von dir, ihn mitzunehmen. Ich habe dich gewarnt, nie etwas von dem, was du dort ausgräbst, zu behalten. Du musst ihn wegbringen, Martin. Du musst ihn zurückgeben.«
»Zurückgeben?«
»Geh zum Acker und vergrab ihn. Nur so bekommen wir unsere Gertie wieder.«
Fassungslos schaute er sie an. Das konnte unmöglich ihr Ernst sein. Doch ihre Miene sagte ihm, dass es so war. Was den Acker und den Wald betraf, war Sara immer schon sonderbar gewesen. Sie hatte ihm eingeschärft, dort oben gut achtzugeben, nicht in der Nähe der Felsen zu pflügen, und niemals etwas, was er dort in der Erde fand, aufzuheben. Er hatte ihre Angst für einen Familien-Aberglauben gehalten. Die Vorstellung, dass Gertie verschwunden war, weil er einen Ring dort gefunden und behalten hatte – diese Vorstellung war lachhaft, geradezu irrsinnig.
»Geh und tu es jetzt sofort, noch ehe du in die Stadt reitest. Bitte, Martin.«
Er dachte an das, was Lucius ihm gesagt hatte, als Sara nach Charles’ Tod eine schwere Zeit durchgemacht hatte.
»Einem Menschen, der an einem Anfall von Wahnsinn leidet, darf man niemals widersprechen. Dadurch macht man es nur noch schlimmer.«
Martin nickte Sara zu, schnalzte mit der Zunge und lenkte das Pferd in Richtung Acker.
Er ritt zu der Stelle, an der er den Ring gefunden hatte – ganz am Ende, dort, wo die Bäume begannen. Er saß ab, drehte sich um und blickte zum Haus zurück, wo Sara noch immer stand und ihn beobachtete. Sie war nur als winziger Schatten zu erkennen.
Er streifte sich die nassen Fäustlinge ab und griff in seine rechte Hosentasche, doch der Ring war nicht da. Seine Finger tasteten verzweifelt, dann klopfte er auf die linke Hosentasche. Nichts. In der linken Jackentasche steckten nur einige Schrotpatronen. In der rechten streiften seine Finger den zusammengerollten Zopf. Martin schauderte vor Ekel.
Der Ring musste da sein! Er hatte ihn am Morgen eingesteckt und erinnerte sich noch daran, wie er ihn berührt hatte, als er dem Fuchs auf den Fersen gewesen war. Zu jenem Zeitpunkt hatte der Ring noch in seiner Tasche gesteckt, das wusste er ganz genau.
Sara behielt ihn weiterhin im Auge, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie
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