Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
wieder muss ich an die Steine denken, die ich einst in den Brunnen geworfen habe, und daran, wie lange es dauerte, bis sie unten ankamen.
Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein muss, so tief zu fallen.
Wenn man, umgeben von einem Rund aus Stein, fällt und fällt, mitten in das Herz der Dunkelheit hinein.
2. Januar
Gegenwart
Ruthie
Die Schneeflocken wirbelten, tanzten und vollführten betrunkene Pirouetten im Licht der Frontscheinwerfer von Buzz’ Pick-up. Die Spikereifen bissen sich in den Schnee, aber Buzz nahm die Kurven so schnell, dass das Heck ausschlug und sie fast gegen die hohen Schneewälle prallten, die die einspurigen, unbefestigten Straßen säumten.
»Mach die Scheinwerfer aus«, sagte Ruthie. Sie waren fast da, und ihre Mutter sollte nicht merken, dass sie schon wieder zu spät nach Hause kam. Sie war neunzehn, und für wen hielt sich ihre Mutter eigentlich, verdammt noch mal, dass sie glaubte, Ruthie vorschreiben zu können, wann sie zu Hause zu sein hatte?
Ruthie beugte sich nach links, nahm die Flasche Pfefferminzschnaps, die zwischen Buzz’ Oberschenkeln klemmte, und trank einen großzügigen Schluck. Dann kramte sie in den Taschen ihres Parkas, holte das Fläschchen mit Augentropfen heraus, legte den Kopf in den Nacken und träufelte sich drei Tropfen in jedes Auge.
Sie hatten draußen in Tracers Scheune gefeiert und das Bierfass leer gemacht, das von der Silvesterparty noch übrig gewesen war. Emily hatte Gras mitgebracht, und sie hatten um den Kerosinofen gesessen und darüber geredet, wie beschissen doch der Winter war und dass im Frühling alles anders werden würde. Sie hatten letztes Jahr im Juni ihren Schulabschluss gemacht, und jetzt hockten sie immer noch hier im stinköden West Hall, Vermont, dem schwärzesten Loch in der Mitte des Universums. All ihre anderen Freunde waren aufs College gegangen oder in große Städte gezogen, wo es immer warm war: Miami, Santa Cruz. Nicht, dass Ruthie das nicht auch versucht hätte. Sie hatte sich an Unis in Kalifornien und New Mexico beworben, Unis mit renommierten betriebswirtschaftlichen Fakultäten, aber ihre Mom hatte gesagt, das ginge im Augenblick nicht, sie hätten für so etwas einfach kein Geld.
Sie waren immer knapp bei Kasse und kamen gerade so über die Runden, indem sie Gemüse und Eier auf dem Bauernmarkt verkauften. Zusätzlich dazu bot ihre Mom auf dem Markt, in Wollgeschäften und auf diversen Handarbeitsausstellungen auch noch selbstgestrickte Socken und Mützen an. Sie war eine große Verfechterin des Tauschhandels – sie tauschte Gemüse und Eier gegen Käse, Rohmilch und lokal gemahlenes Mehl ein. Sie kauften nie etwas Neues, und wenn etwas kaputtging, wurde es nicht weggeworfen, sondern repariert. Ruthie hatte schon früh gelernt, dass es sinnlos war, sich Dinge zu wünschen, die sie sich nicht leisten konnten. Wenn sie ein besonderes Paar Turnschuhe oder eine ganz bestimmte Jacke haben wollte, weil die anderen Kinder in ihrer Klasse sie auch hatten, brachte ihr das von ihren Eltern lediglich missbilligende, enttäuschte Blicke und die Bemerkung ein, dass sie genügend wunderschöne Sachen besitze (selbst wenn die aus dem Secondhandladen kamen und die Namen fremder Kinder auf den Etiketten standen).
Ihre Mom hatte beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn Ruthie noch ein Jahr zu Hause blieb und solange aufs Community College ging; sie hatte sogar angeboten, Ruthie dafür zu bezahlen, dass sie beim Eierverkauf mithalf. (Mittlerweile führte Ruthie ganz allein die Bücher, fütterte jeden Tag die Hühner, sammelte die Eier ein und mistete den Stall aus.)
»Wenn du etwas über Betriebswirtschaft wissen willst, ist das nicht eine viel praktischere Art zu lernen?«, hatte ihre Mutter gefragt.
»Ein paar Dutzend Eier auf dem Bauernmarkt zu verkaufen ist nicht so ganz das, was ich mir vorgestellt hatte.«
»Aber es ist ein Anfang. Und jetzt, wo dein Vater nicht mehr da ist, kann ich jedes bisschen Hilfe brauchen«, hatte ihre Mutter erwidert. »Nächstes Jahr«, beteuerte sie, »kannst du dich bewerben, wo du willst. Ich helfe dir bei der Finanzierung.«
Ruthie ließ nicht locker: Schließlich gebe es doch Studentendarlehen und Stipendien, für die sie vielleicht infrage käme. Aber ihre Mutter weigerte sich, die nötigen Unterlagen auszufüllen, weil das dem Staat angeblich eine Möglichkeit bot, sie auszuspionieren. Man durfte den staatlichen Behörden nicht trauen, nicht einmal dann, wenn sie Geld an Studenten
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