Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Kuchenessen an seinen Geheimnissen teilhaben. Wer war sie, Gary? Wer war die Frau mit dem Zopf?
Katherine beobachtete die Passanten auf dem Gehweg: Menschen in Fleecejacken und Wollpullovern; einige Männer in rotkarierten Steppjacken, offenbar auf dem Weg zur Jagd; zwei Jugendliche in Kapuzensweatshirts auf Skateboards. Sie sah keinen einzigen Anzug, nicht mal eine Krawatte oder hochhackige Schuhe. Ein völlig anderes Bild als in Boston. Viel entspannter und freundlicher. Die Menschen auf der Straße lächelten einander allen Ernstes zu und grüßten. Gary musste begeistert gewesen sein.
Sie hatten früher oft darüber nachgedacht, aus der Großstadt in einen kleinen Ort wie diesen zu ziehen. Wie viel schöner das für Austin wäre. Gary war in einem Dorf in Idaho groß geworden und meinte, für Kinder sei es dort das reinste Paradies gewesen – man hatte Platz zum Atmen, zum Herumstreunen, man kannte seine Nachbarn, und die Eltern hatten keine Angst, wenn man abends länger wegblieb, weil nie etwas passierte. Man war sicher und geborgen.
Auf dem Weg nach draußen blieb Katherine vor einem Anschlagbrett stehen. Sie überflog die Aushänge: Trek-Mountainbike zu verkaufen, ein Bikram-Yoga-Kurs, die Bekanntmachung, dass der Bauernmarkt während der Wintermonate in der Sporthalle der Highschool stattfinden würde, ein Plakat, auf dem nach neuen Mitgliedern für eine Gruppe von UFO -Jägern gesucht wurde. Und mittendrin folgende nüchterne Anzeige: Wohnung zu vermieten. Sanierter viktorianischer Altbau, zentral gelegen. Zwei Zimmer. Keine Haustiere. 700 $ warm . Am unteren Rand des Blatts gab es mehrere kleine Abreißzettelchen mit einer Telefonnummer, unter der man sich melden konnte.
In diesem Moment spürte sie erneut Garys Nähe. Er stand neben ihr, legte den Arm um sie und raunte ihr zu: Na los, reiß einen ab . Ohne nachzudenken, nahm sie eins der Zettelchen und steckte es in die Tasche ihrer Jeans.
Braves Mädchen , wisperte Gary, ein sanftes Säuseln in ihrem rechten Ohr.
Wird es nicht langsam Zeit, mit der Arbeit anzufangen? , fragte Gary sie nun in neckendem, angenehm vertrautem Ton, als sie am Küchentisch ihrer neuen Wohnung saß. Katherine stand auf und ging zum Tresen, um sich Kaffee nachzuschenken. Dann machte sie sich auf den Weg in das Wohnzimmer voller Kartons und trat an ihren Arbeitstisch. Es war ein alter Bauerntisch, den sie nach dem College angeschafft hatte, neunzig Zentimeter tief und einen Meter fünfzig lang, aus dicken Kiefernbohlen gezimmert. Er war von Säge, Messer und Bohrer zerschrammt, hatte im Laufe der Jahre unzählige Farbspritzer und Schmierspuren abbekommen. An der rechten Tischkante war ein Schraubstock befestigt. Auf dieser Seite bewahrte sie auch ihre Werkzeuge auf: Hammer, Säge, Dremel, Lötkolben, Blechschere, Bohrer mit Bit-Set und eine Werkzeugkiste aus Plastik, die eine Auswahl von Nägeln, Schrauben und Scharnieren enthielt. Am hinteren Rand des Tischs stand eine Kaffeedose voller Pinsel, Cutter, Stifte und Marker. In einem sorgfältig beschrifteten hölzernen Schränkchen auf der linken Seite bewahrte sie ihre Farben und Lacke auf.
Und in der Mitte des Tischs stand ihr neuestes Werk, an dem sie bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Es war ein zehn mal fünfzehn Zentimeter großer Holzkasten mit dem Titel Ehegelübde . Die Vorderseite bestand aus zwei Türen mit Mustern aus buntem Glas, die wie Kirchenfenster aussahen. Öffnete man sie, kam dahinter ein hölzerner Altar zum Vorschein, auf dem ein winziges Foto von Katherine und Gary an ihrem Hochzeitstag stand. Beide sahen unfassbar jung und glücklich aus und bemerkten die dunkle Krähe nicht, die sie von hinter einem Vorhang beobachtete. Über ihren Köpfen schwebte, einem Wölkchen gleich, ein Schild mit dem Versprechen Bis dass der Tod uns scheidet in säuberlicher Schönschrift. Doch unten im Schatten zu ihren Füßen war eine kleine gewundene Straße mit winzigen Reifenspuren zu sehen, und auf der vom Betrachter aus gesehen rechten Seite ragte die vordere Hälfte eines Matchbox-Autos mit demolierter Motorhaube ins Innere des Kastens. Ganz unten dann noch zwei lapidare Zeilen, in Anführungszeichen gesetzt: »Ich muss nach Cambridge, eine Hochzeit fotografieren. Zum Abendessen sollte ich zurück sein.«
Nun legte sie letzte Hand an den Kasten – ein silberner Rahmen für die Fenster, Goldfarbe für das Kruzifix. Zum Schluss überzog sie das Ganze mit einer Schicht mattem Lack. Gleich danach würde sie
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