Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
überlegen, ob wir die Polizei rufen.« Sie strubbelte ihrer kleinen Schwester durch die Haare und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Wir kriegen das schon hin.«
Fawn kaute auf ihrer Lippe. Sie sah aus, als könnte sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Sie würde uns doch nicht im Stich lassen.«
Ruthie legte den Arm um ihre Schwester und zog sie an sich. »Natürlich nicht. Wir finden schon raus, was passiert ist. Nach dem Frühstück machen wir uns auf die Suche nach Hinweisen. Niemand verschwindet einfach so, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Das ist dann, als würden wir Nancy Drew spielen.«
»Wen?«
»Nicht so wichtig. Vertrau mir einfach, okay? Wir schaffen das. Wir finden sie. Versprochen.«
Katherine
Manchmal, wenn sie nachts aufwachte, spürte sie die beiden neben sich. Die andere Bettseite war warm, und im Kissen, wo die zwei Köpfe gelegen hatten, befand sich eine weiche Kuhle. Am darauffolgenden Morgen drehte sie sich dann um, vergrub ihr Gesicht im Kissen und versuchte ihren Duft zu erhaschen.
Es war nicht nur Shampoo, Rasiergel und Motorradschmiere – es waren all diese Düfte miteinander vermischt, und darunter lag noch etwas anderes, berauschend Würziges – die Essenz von Gary. Und Austin, er hatte nach warmer Milch und Honig gerochen; ein süßes Ambrosia, das sie am liebsten getrunken hätte. Bis in alle Ewigkeit hätte sie davon leben können. In den matten Stunden des frühen Morgens, ehe die Sonne aufging, glaubte sie, dass es tatsächlich möglich sein könnte, alles, was einen Menschen ausmachte, zu einem Duft zu destillieren.
Kaum war sie wach, so wie jetzt, und saß in einem von Garys alten T-Shirts in der Küche, die erste Tasse starken Kaffee in der Hand, wurde ihr bewusst, wie albern dieser Gedanke war. Sie begriff, dass sie die beiden neben sich im Bett nur geträumt hatte. Oder vielleicht war es auch eine Erinnerung ihres Körpers gewesen wie bei jemandem, der Phantomschmerzen in einem fehlenden Glied spürt.
Wie viele Morgen hatten sie auf diese Weise verbracht – mit Austin, der in seinem Flanellschlafanzug zwischen ihnen lag und ihnen phantastische Geschichten aus seinen Träumen erzählte: »… und dann war da ein Mann, der einen Zauberhut hatte, und er konnte alles aus dem Zauberhut zaubern, was man wollte – Marshmallows, Schwimmbecken, sogar Sparky, Mama!« Sie hatte ihm die Haare gezaust und es süß gefunden, dass er in seinen Träumen ihren verstorbenen Hund wieder zum Leben erwecken konnte.
Der saure Kaffee kam mit Knurren und Beißen in ihrem Magen an. Sie klopfte mit dem kleinen Ring gegen die Tasse – es war der Ring, den Gary ihr zwei Wochen vor seinem Tod geschenkt hatte. Sie drehte ihn am Finger und sah die leichte Vertiefung, die er dort hinterlassen hatte, als dringe er langsam in ihre Haut ein, um mit ihr zu verschmelzen.
Sie musste etwas essen. Sie hatte am Tag zuvor kein richtiges Abendbrot gehabt, sondern sich lediglich mit einer Portion Oliven und einem Glas Shiraz an ihren Arbeitstisch gesetzt. Seit Garys Tod ernährte sie sich fast ausschließlich von Dosensuppe und Kräckern – der Gedanke, eine richtige Mahlzeit für eine einzige Person zu kochen, kam ihr aberwitzig vor. Falls sie Lust auf etwas Ausgefallenes hatte, konnte sie ja essen gehen. Außerdem hatte sie bereits einige ganz ausgezeichnete Dosensuppen-Variationen entdeckt: Hummercremesuppe, Butternusskürbissuppe, Tomatensuppe mit gegrillter Paprika.
Allerdings war sie noch nicht einkaufen gewesen, und der Schrank mit der Suppe und den Kräckern war leer. Sie würde heute auf den Markt gehen müssen. Tags zuvor hatte sie einige der haltbaren Lebensmittel ausgepackt – Haferflocken, Backpulver, Mehl –, aber die Töpfe und Pfannen lagen immer noch in den Kartons. Sie wohnte jetzt seit zwei Tagen in dieser Wohnung, und außer im Wohnzimmer ihre Atelierecke einzurichten und das Bett zu beziehen, hatte sie noch nicht viel unternommen, um sich häuslich niederzulassen.
In Wahrheit gefiel ihr der Anblick der leeren Arbeitsflächen und Regale; wie die nackten weißen Wände erschienen sie ihr als Zeichen eines Neuanfangs. Sie zögerte sogar, ihre Kleider in den Schrank zu hängen, und zog es vor, wie ein Vagabund aus dem Koffer zu leben. Was brauchte man wirklich? Die Frage erregte sie – ein Experiment in reduzierter Lebensführung.
Lustlos ließ Katherine den Blick über die Kartons schweifen, auf denen in sauberen Buchstaben KÜCHE geschrieben stand.
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