Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Darunter war der jeweilige Inhalt verzeichnet. Rührschüsseln, Steakmesser, Eismaschine, Brotbackautomat. Sie betrachtete die Kartons voller Unglauben – wer um alles in der Welt brauchte eine Eismaschine oder einen Brotbackautomat? Diese beiden Geräte, beschloss sie, würde sie zusammen mit vielen, vielen anderen Dingen aus den Kartons irgendwann weggeben.
Im Wohnzimmer standen weitere Umzugskisten: CD s, Filme, Bücher, Fotoalben. Ein ganzes Dasein in Objekten. Doch jetzt, in Kisten verpackt, kamen sie ihr seltsam unwirklich vor. Überbleibsel aus dem Leben einer anderen Frau: der Katherine, die mit Gary verheiratet gewesen war und früher einmal einen Sohn gehabt hatte; die ein Hochzeitsservice besaß und Fotoalben und einen elektrischen Messerschärfer. All diese Dinge kamen ihr nun wie Spielzeug vor, als wäre sie ein Kind in einem Spielhaus, das sich vorzustellen versuchte, wie die Erwachsenen lebten.
Austin war vor zwei Jahren und vier Monaten gestorben – Leukämie. Er war sechs Jahre alt gewesen. Garys Tod lag jetzt zwei Monate zurück. Manchmal kam es ihr wie zwei Tage vor, manchmal wie zwanzig Jahre. Ihr Entschluss, von Boston nach West Hall, Vermont, zu ziehen (Einwohnerzahl 3163 ), war bei Familie und Freunden auf Unverständnis, ja Besorgnis gestoßen. Sie hatte behauptet, sie brauche einen Neuanfang. Sie hatte soeben ein Peckham-Stipendium zugesprochen bekommen: dreißigtausend Dollar für Lebenshaltungskosten und Arbeitsmittel, so dass sie sich ganz ihrer Kunst widmen und die Serie von Bilderkästen vollenden konnte, an der sie das ganze letzte Jahr hindurch gearbeitet hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie Künstlerin und nur Künstlerin – nicht Ehefrau, nicht Mutter, nicht Leiterin einer Galerie. Sie gab ihr Loft in Boston auf, kündigte ihre Stelle in der Galerie und zog in eine kleine Wohnung im zweiten Stock eines alten viktorianischen Hauses in der Main Street von West Hall.
Die Wahrheit verriet sie niemandem.
Knapp einen Monat nach Garys Unfall war seine letzte American-Express-Rechnung mit der Post gekommen. Die letzte Abbuchung darauf stammte vom Tag seines Todes: einunddreißig Dollar und neununddreißig Cent für ein Essen in Lou Lous Café in West Hall, Vermont. Aus einem Katherine unbekannten Grund hatte Gary eine dreistündige Fahrt nach Vermont unternommen, dort gegessen und war dann zurückgefahren. Auf dem Rückweg hatte er die Panoramastrecke genommen, in südlicher Richtung auf der Route 5 , die sich neben der Interstate I- 91 entlangschlängelte. Es schneite, ein überraschender Wintereinbruch, und Gary nahm eine Kurve zu schnell, verlor die Kontrolle über den Wagen und prallte gegen einen Felsen. Die Polizei teilte ihr mit, dass er sofort tot gewesen sei.
Als sie zu der Werkstatt in White River Junction fuhr, um Garys persönliche Dinge aus dem Wagen zu holen, warf sie einen Blick auf die aufgeblasenen Airbags, die zerborstene Windschutzscheibe und die wie eine Ziehharmonika zusammengefaltete Motorhaube des Wagens und fiel in Ohnmacht. Am Ende gab es ohnehin nicht viel mitzunehmen – ein paar Unterlagen aus dem Handschuhfach, Garys Ersatzsonnenbrille, seinen Lieblings-Reisebecher. Das, was sie eigentlich zu finden gehofft hatte – den schwarzen Rucksack, in dem Gary seine Fotoausrüstung aufbewahrte –, befand sich nicht im Wagen. Sie versuchte, den Verbleib des Rucksacks zu klären, fragte die Mechaniker in der Werkstatt, den Schadensregulierer der Versicherung, die Polizei, die Mitarbeiter in der Notaufnahme – alle behaupteten, ihn nicht gesehen zu haben.
Gary war an jenem Morgen um zehn Uhr mit dem Rucksack aus dem Haus gegangen. Er hatte gesagt, er müsse eine Hochzeit in Cambridge fotografieren und sei zum Abendessen zurück.
Wieso hatte er gelogen?
Diese Frage beschäftigte sie, fraß sie regelrecht auf. Sie durchsuchte seinen Schreibtisch, seine Ordner, Unterlagen und den Computer, fand jedoch nichts Ungewöhnliches. Sie rief seine Freunde an und fragte, ob sie von Bekannten in Vermont oder sonst einem Grund wüssten, weshalb Gary dorthin gefahren sein könnte.
Nein, beteuerten sie alle, ihnen falle niemand ein. Sie sagten ihr, er habe vermutlich von einem besonders schönen Antiquitätenladen gehört oder einfach nur eine Spritztour machen wollen. »Du kennst Gary doch«, hatte sein bester Freund Ray mit erstickter Stimme gesagt. »Immer spontan. Immer auf der Suche nach Abenteuern.«
Kaum hatte sie die Kreditkarten-Abrechnung mit der
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