Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Stück Schokolade für jeden gefundenen Hinweis.«
»Aus Moms geheimem Vorrat?«
Ruthie nickte. Mom bewahrte einen Beutel mit Hershey’s-Kisses-Pralinen ganz hinten in der Tiefkühltruhe auf. Den Mädchen war strikt verboten, sie anzurühren, es sei denn, ihre Mutter gab ihnen welche, in der Regel als Bestechung. Mom wollte eigentlich nicht, dass sie Kristallzucker aßen, deswegen war Schokolade immer etwas ganz Besonderes, vor allem für Fawn.
»Auf die Plätze, fertig, los!«, rief Ruthie, doch Fawn blieb wie angewurzelt stehen.
»Ich weiß nicht, wo ich suchen soll«, sagte sie.
»Du bist ein Kind. Benutz deine Phantasie. Wenn du hier was verstecken wolltest, wo würdest du es hintun?«
Fawn schaute sich um. »Unters Bett?«, kam es leise und zaghaft zurück.
»Möglich«, erwiderte Ruthie. »Schauen wir mal nach.« Beide ließen sich auf die Knie nieder und spähten unters Bett. Dort war nichts außer einer Menge Staubflusen, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten. Vielleicht war das der Grund, weshalb ihre Mutter wie eine Asketin in einem Zimmer ohne jegliche Dekorationsgegenstände lebte – man musste weniger Staub wischen.
Ruthie untersuchte den Fußboden unter dem Bett auf lose Dielen. Als Kind hatte sie in ihrem Zimmer einmal ein tolles kleines Versteck unter einem lockeren Dielenbrett entdeckt, mitten unter dem Bett. Über die Jahre hinweg hatten sie und Fawn zahlreiche ähnliche Verstecke ausfindig gemacht: eine kleine Geheimtür hinter dem Geschirrschrank in der Küche; eine herausnehmbare Ecke im Türrahmen zwischen Küche und Wohnzimmer, hinter der sich eine Nische verbarg, ideal für die Aufbewahrung kleiner Schätze. Diese Verstecke schienen übers ganze Haus verteilt zu sein, insofern war es mehr als wahrscheinlich, dass es auch in Moms Schlafzimmer welche gab.
»Bestimmt haben hier früher Kinder gewohnt«, hatte Ruthie zu Fawn gesagt. »So viele Geheimfächer – auf die Idee käme ein Erwachsener doch gar nicht.«
»Vielleicht finden wir was, was sie vergessen haben. Spielsachen oder eine Botschaft oder so«, hatte Fawn aufgeregt entgegnet. Doch bislang waren alle von ihnen entdeckten Verstecke leer gewesen.
Ruthie zog die Matratze weg und sah zwischen ihr und dem Bettgestell nach. Nichts. Sie öffnete die Schubladen des Nachttischs. Ein halb aufgegessener Schokoriegel mit Mandeln, eine Taschenlampe und ein Kugelschreiber. Oben auf dem Nachttisch lag ein Stapel Krimis – ihre Mom war ein großer Ruth-Rendell-Fan.
Auf der anderen Bettseite, wo ihr Vater geschlafen hatte, gab es keinen Nachttisch. Er hatte abends nie gelesen. Er war der Auffassung gewesen, dass Betten zum Schlafen da seien, also hatte er weder einen Tisch noch eine Lampe gehabt. Wenn er las (hauptsächlich Sachbücher über globale Erwärmung oder die finsteren Machenschaften der Pharmaindustrie; dicke Hochglanzbücher übers Gärtnern oder Landwirtschaft; antiquarische Bestimmungsbüchlein voll mit Zeichnungen der neuenglischen Flora und Fauna), saß er dabei in einem großen Ledersessel in seinem Arbeitszimmer. Ihr Vater hatte für sein Leben gern gelesen. Er hatte den Geruch und das Gefühl von Büchern in seinen Händen geliebt. Vor Ruthies Geburt, als sie noch nicht nach Vermont umgezogen waren, hatte er sogar sein eigenes Antiquariat gehabt.
Ruthie wusste kaum etwas über das frühere Leben ihrer Eltern. Sie hatten sich an der Columbia University kennengelernt, wo ihre Mutter Kunstgeschichte studiert hatte und ihr Vater Literaturwissenschaft. Für Ruthie war es unmöglich, sich ihre Eltern als Studenten vorzustellen; bei dem bloßen Gedanken, sie könnten einmal jung, draufgängerisch und idealistisch gewesen sein, schwirrte ihr der Kopf. Nach dem Abschluss hatten sie dann gemeinsam ein Antiquariat in Chicago eröffnet.
Nach Chicago hatten sie in Minnesota gelebt, dann in Wisconsin, und dann, nachdem sie Scott und Helen Nearings Buch Ein gutes Leben leben gelesen hatten, waren sie weiter gen Osten, nach Vermont gezogen. Ihr Ziel war es, so autark wie möglich zu leben. Sie kauften das Haus und den Hof für einen Spottpreis ( Der Besitzer hat es uns praktisch hinterhergeworfen , pflegten ihre Eltern zu sagen), schafften sich Hühner und Schafe an und legten einen riesigen Gemüsegarten an. Ruthie war gut drei gewesen, als sie aufs Land gezogen waren. Neun Jahre später, als ihre Mutter dreiundvierzig und ihr Vater neunundvierzig war, kam dann Fawn zur Welt.
»Ist das euer Ernst?«, fragte Ruthie, als
Weitere Kostenlose Bücher