Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Eltern noch alles fotografiert – und ich meine alles , sogar wie sie das erste Mal aufs Töpfchen gegangen ist. Als ich dann kam, waren solche Sachen nicht mehr so interessant. Natürlich gibt’s auch Fotos von mir, aber nicht halb so viele wie von Sophie.«
Ruthie nickte. Genau dasselbe hatte sie auch gedacht.
»Wo sind deine Babyfotos?«, wollte Fawn wissen. Als sie ihre Schwester über den Computerbildschirm hinweg fragend ansah, hatte sie wieder diese Eulenaugen.
»Es gibt keine«, musste Ruthie gestehen.
Fawn biss sich auf die Lippe. »Och«, seufzte sie enttäuscht, dann wandte sie sich wieder dem Laptop zu. Allerdings schien sie nicht länger zu spielen.
»Vielleicht sind sie bloß woanders«, vermutete Buzz.
Ruthie schüttelte den Kopf. »Ich hab nie welche gesehen. Hin und wieder, vor allem, als ich noch kleiner war, hab ich nachgefragt, und Mom hat jedes Mal geantwortet: ›Ach, irgendwo müssen die rumfliegen‹, aber ich hab nie eins zu Gesicht bekommen. Das hier von mir auf dem Hof ist das älteste, das ich finden konnte. Ich würde sagen, da war ich so ungefähr drei.«
Ruthie schaute auf das Bild. Den Teddy fest im rechten Arm haltend, strahlte sie in die Kamera. Ihre Jacke und ihr Kleid sahen sauber und neu aus. Zu gern wäre sie in der Zeit zurückgereist, hätte sich neben das kleine Mädchen gesetzt und sich angehört, was es so zu erzählen hatte. »Woran erinnerst du dich noch?«, hätte sie gefragt. »Wo hast du bis jetzt gesteckt?«
Sie schloss die Augen und versuchte sich ihre frühsten Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, doch da war nichts. Sie wusste nur noch, wie sie auf dem Hof Fahrrad gefahren war, wie einmal einer der Hähne Jagd auf sie gemacht hatte, wie sie samstagmorgens oft zusammen mit ihrem Dad im Pick-up zum Müllabladeplatz gefahren war. Wie ihre Eltern ihr einschärften, niemals in den Wald zu gehen, weil kleinen Mädchen, die sich dort verirrten, schreckliche Dinge passieren konnten.
Und dann war da noch die Erinnerung, wie ihr Vater sie irgendwo draußen im Wald gefunden und zurück nach Hause getragen hatte – wie er mit ihr im Arm den Hügel hinuntergerannt war und sie ihr tränennasses Gesicht an die kratzige Wolle seiner Jacke gedrückt hatte. »Das war nur ein Traum«, hatte er ihr hinterher gesagt. »Nur ein schlimmer Traum.«
Erneut glitt ihr Blick über die Fotos: sie mit ihrer Mutter im Partnerlook; vor ihrem Chemiebaukasten, während ihr Vater ihr gerade das Periodensystem erklärte.
Lügner.
»Hallo?«
»Hi, Ruthie. Hier ist Candace O’Rourke.«
Ruthie hatte Fawn ins Bett gebracht, und Buzz war Bier holen gefahren. Kaum war sein Auto außer Sicht gewesen, hatte das Telefon angefangen zu klingeln. Ruthie war sofort rangegangen, weil sie nicht wollte, dass Fawn wach wurde.
»Du warst heute bei mir«, fügte Candace hinzu, als Ruthie vor lauter Schreck nichts erwiderte. »Mit den Portemonnaies.«
Als müsste Ruthie daran erinnert werden. Sie schlüpfte nach draußen und zog leise die Haustür hinter sich zu. Das schnurlose Telefon in der Hand, ging sie die Eingangsstufen hinunter und ein paar Schritte die Hofeinfahrt entlang.
»Woher haben Sie diese Nummer?«, wollte sie wissen. Sie stand nicht im Telefonbuch, und es war so gut wie unmöglich, sie herauszufinden.
»Es tut mir leid, wenn ich dich verschreckt habe«, fuhr Candace unbekümmert fort. »Ich war einfach nur so geschockt, als ich die Portemonnaies gesehen und deine Geschichte gehört habe. Ich bin unheimlich froh, dass du ans Telefon gegangen bist. Es gibt noch so viel, was ich dich heute Nachmittag nicht fragen konnte.«
Der Abend war kalt und klar, die Sterne funkelten. Ruthie blickte nach oben, sah das Sternbild Orion über sich und musste daran denken, wie ihr Vater ihr beigebracht hatte, der Linie aus Sternen, die den Gürtel des Orion bildeten, bis zum Aldebaran zu folgen, der das Auge von Taurus, dem Stier, war. Stier war das Sternzeichen ihres Vaters gewesen, und manchmal stellte sie sich vor, dass er von da oben auf sie herunterschaute.
Sie fand den Großen und den Kleinen Wagen und die Milchstraße, die sich als eisgraue Spur quer über den Himmel zog.
»Ist Alice immer noch verschwunden?«, fragte Candace.
»Alice?«, stammelte Ruthie. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander.
»Deine Mutter, Schatz.« Candace sprach langsam, als wäre Ruthie ein kleines Kind. »Du hast doch gesagt, sie sei verschwunden.«
»Aber – ich hab Ihnen doch gar nicht gesagt, wie sie
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