Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
störe«, sagte Ruthie. »Aber sind Sie Candace O’Rourke?«
»Ja«, bestätigte die Frau argwöhnisch.
»Also, ich weiß, wahrscheinlich ist es ziemlich weit hergeholt, aber ich bin auf der Suche nach zwei anderen O’Rourkes – Thomas und Bridget? Sie haben früher in der Kendall Lane gewohnt.«
Die Augen der Frau wurden schmal. »Wer sind Sie?«, fragte sie und wich einen Schritt zurück.
»Mein Name ist Ruthie. Ruthie Washburne.«
Candace starrte Ruthie einen Moment lang an, doch dann kam urplötzlich Leben in sie, als sei sie auf einmal hellwach. »Natürlich!«, rief sie und strahlte, als hätte sie eine lange verlorene Freundin wiedergefunden. »Natürlich bist du das. Und ich wette, ich weiß auch, weshalb du gekommen bist.«
»Weshalb ich gekommen bin?«, echote Ruthie.
»Warum erzählst du es mir nicht selbst? In deinen eigenen Worten?«
Verwirrt stammelte Ruthie: »Meine Eltern waren, also, sie waren Freunde von Thomas und Bridget, und ich habe ein paar alte Sachen von ihnen im Zimmer meiner Eltern gefunden, und da dachte ich …«
»Komm doch rein«, bat die Frau. »Bitte.«
Ruthie trat ein, und die Frau schloss die Tür. Im Haus war es warm. Es roch leicht nach Moder.
Die Frau führte Ruthie durch den Eingangsflur in ein großes, offenes Wohnzimmer mit Ledercouch und zwei dazu passenden Sesseln. In der Ecke stand ein Weihnachtsbaum, der bis unter die Decke reichte. Er war mit blauem und silbernem Schmuck behängt. Noch nie hatte Ruthie einen so schönen Weihnachtsbaum gesehen. Sie selbst hatten ihre Bäume immer im Wald geschlagen; dürre, krumme Dinger, die sie mit einem Mischmasch aus selbstgebastelten Anhängern, aufgefädeltem Popcorn und Papierketten dekorierten.
Candace O’Rourke nahm auf der Couch Platz und bedeutete Ruthie, sich neben sie zu setzen. Ruthie kam sich vor, als wäre sie zwischen die Seiten eines Hochglanz-Möbelkatalogs oder Einrichtungsmagazins geraten: Alles im Zimmer sah so perfekt aus. Hier wohnte auch ein Kind – das glücklichste und ordentlichste Kind der Welt. Fawn wäre ausgeflippt, hätte sie die vielen Spielsachen gesehen: ein altmodisches Schaukelpferd, eine Holzküche mit echten Töpfen aus Metall, in der Ecke stand sogar ein großes hölzernes Kasperletheater. Alles war elegant und sauber und geordnet. Fast schon unwirklich.
»Möchtest du gerne etwas trinken?«, fragte Candace. »Oder etwas essen?«
»Nein, danke.«
»Ich habe Kekse da.«
»Nein, danke.«
Candace erhob sich. »Ich hole uns rasch ein paar Kekse. Und vielleicht einen Schluck Tee. Möchtest du Tee?«
»Eigentlich nicht. Ist schon in Ordnung, ich möchte nichts.«
»Na dann. Bin gleich wieder da.«
Ruthie hockte auf der Sofakante und hörte Candaces Schritte im Flur leiser werden. Sie wartete eine Minute, dann stand sie auf und sah sich um. Als Erstes ging sie zum Weihnachtsbaum. Bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass er doch gar nicht so perfekt war. Er nadelte stark und war knochentrocken. Viele der Anhänger waren kaputt und wurden von Tesafilm oder Gummibändern zusammengehalten. Der Stern, der oben auf der Spitze gesessen hatte, war ein Stück nach unten gerutscht und hing nun an einem tieferen Ast fest wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war.
Während sie den Baum so betrachtete, bekam Ruthie ein mulmiges Gefühl. Als Nächstes wanderte ihr Blick zu der Spielzeugküche, und sie sah, dass in einem der kleinen Töpfe auf dem Herd eine echte Orange lag, verschrumpelt und mit Schimmel überzogen.
Sie ging zum Kasperletheater und schaute dahinter. Dort lag ein Haufen kaputter Handpuppen: ein König, dem die Krone fehlte, ein Frosch ohne Kopf und eine nackte Prinzessin, deren Gesicht mit blauem Filzstift bekritzelt war und der ein Buntstift im Bauch steckte wie ein gelber Speer.
Ruthie wandte sich ab, verließ das Wohnzimmer und ging durch den Flur in die Richtung, in der sie die Küche vermutete. Sie hörte, wie Schranktüren geöffnet und geschlossen wurden. Überall an den Wänden gab es Bilderhaken, aber keine Bilder.
Schließlich fand sie die Küche, wo Candace vor einem großen Gasherd stand. Die Arbeitsflächen waren aus Granit, die Schrankfronten aus glänzendem dunklem Holz. Trotzdem war irgendetwas verkehrt. Nirgendwo stand etwas herum – kein Laib Brot, keine Obstschale, keine Kaffeemaschine, kein Toaster. Die Schränke, die Candace offen gelassen hatte, waren nahezu leer – ein paar Kräcker, eine Büchse Thunfisch, eine Dose
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