Winterfest
blätterte sie abermals rastlos durch.
Da ging die Tür auf. Der langhaarige Mann, den sie vor etlichen Stunden zusammen mit Tommy in ihrer Küche gesehen hatte, kam ins Zimmer. Diesmal trug er einen Dienst ausweis der Polizei um den Hals. Hinter ihm kam ein anderer Polizist herein, der hektisch einen Kaugummi kaute.
»Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten«, sagte der Langhaarige. »Aber wir waren gezwungen, es auf diese Weise zu tun. Wir waren mitten in einer Fahndungsaktion und Sie hätten uns beinahe einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
Line sagte nichts.
Der Polizist mit dem Kaugummi streckte die Hand aus und grüßte. »Hallo. Ich bin Petter Eikelid. Würden Sie kurz mitkommen?«
Line sagte immer noch nichts, erhob sich jedoch und folgte ihm auf den Flur. Die Abteilung schien immer leerer zu werden. Die Büros waren dunkel und das Aktivitätsniveau war deutlich gesunken, seit sie vor mehreren Stunden durch dieselben Korridore geführt worden war.
Der langhaarige Fahnder hatte ihr in groben Zügen erklärt, was in den letzten Wochen und Monaten hinter ihrem Rücken vorgegangen war. Tommy war mit Informationen über eine Gruppe innerhalb des Drogenmilieus zu ihnen gekommen, die die Polizei wiederholte Male zu knacken versucht hatte, jedoch ohne Erfolg. Die Informationen von Tommy fügten sich in das ein, was sie bereits wussten, aber es bot ihnen die Möglichkeit, an Interna zu gelangen. Tommy hatte sich bereit erklärt, ihnen weiterzuhelfen, und sich ins Milieu eingeschleust.
Der Weg war trotzdem steinig gewesen. Die zentralen Figuren waren verschlossener, als sie zuerst angenommen hatten, und mehrere unvorhergesehene Dinge waren passiert. Die Ergebnisse hatte Line der Zeitung entnehmen können. Eine Drogenübergabe war geplatzt. Menschen waren getötet worden. Heute sah sie das Ende der Ereignisse. Ein misslungener Überfall hatte zur Festnahme von Rudi Muller geführt.
Tommy wartete eine Etage tiefer in einem leeren Besprechungsraum auf sie. Er stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster, die Ellbogen an den Rahmen gestützt und die Hand an die Stirn gelegt.
Auf seinem ernsten Gesicht erschien ein breites Lächeln, als Line den Raum betrat. Er ging auf sie zu und umarmte sie. Sie schlang die Arme um ihn.
»Ich lasse euch dann mal allein«, sagte der Polizist, der sie begleitet hatte, und schloss die Tür hinter sich.
Sie setzten sich an den Tisch. Das Gespräch begann stockend und zögernd, als wären sie zwei Fremde.
»Ich hatte entdeckt, dass im Shazam nicht alles so lief, wie es sollte«, erklärte Tommy, nachdem ihre Unterhaltung in Gang gekommen war. »Zu einer anderen Zeit und in einem anderen Leben wäre es mir vielleicht egal gewesen, ich hätte weggeschaut oder sogar mitgemacht, aber jetzt konnte ich es nicht zulassen. Du warst ein Teil meines Lebens. Du bist so straight und ich wollte nicht riskieren, irgendwas kaputt zu machen. Ich wollte das Richtige tun.«
Sie hatte kein rechtes Verständnis dafür, dass er beschlossen hatte, ihr nichts davon zu sagen, aber ihr blieb nichts anderes übrig als zu akzeptieren, was er getan hatte, und ihm seine Heimlichtuerei zu verzeihen.
So war er eben. Impulsiv und lustgesteuert, unbekümmert und unreflektiert. Ganz anders als sie, und das war es, was sie am Anfang so angezogen hatte. Aber sie war nicht bereit, weiterhin damit zu leben.
Er hatte es begriffen.
»Ich sehe mir morgen eine Wohnung in Sagene an«, sagte er.
Sie hörte seiner Stimme an, dass er insgeheim hoffte, sie würde sagen, das sei nicht notwendig. Aber sie wappnete sich dagegen und nickte.
»In Ordnung«, flüsterte sie.
71
Wisting las das Protokoll der Vernehmung durch, die gerade mit Tommy Kvanter im Osloer Polizeipräsidium stattgefunden hatte. Darin war beschrieben, wie er über den schwarzen Golf verfügt hatte, der Line Wisting gehörte. Freitag, den 1. Oktober hatte er Rudi Muller den Wagen geliehen. Muller war allein gewesen, als er gegen halb sieben vom Shazam Station wegfuhr. Mehr hatte Tommy Kvanter nicht gewusst, bis einer der Kellner ihn darauf aufmerksam machte, dass der Wagen wieder da war und die Autoschlüssel im Büro lagen. Er wusste nicht, wo Muller gewesen war oder mit wem er sich getroffen hatte. Er selbst war in einer Geschäftsbesprechung mit drei namentlich genannten Männern gewesen, die ihn bei einem neuen Restaurantkonzept dabeihaben wollten.
Es war eine ausführliche Zeugenaussage, in der Tommy seine Bekanntschaft mit einer Reihe von
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