Winterfest
kennenzulernen«, räumte sie ein. »Aber darum geht es gar nicht.«
»Worum geht es dann?«
»Um uns beide. Siehst du nicht, dass wir uns auseinandergelebt haben?«
Er trank erneut. »Das ist nicht allein meine Schuld. Ich weiß auch nicht immer, wann du zu Hause bist. Manchmal bist du tagelang wegen einer Sache unterwegs.«
»Das ist mein Job.«
»Und Shazam Station ist mein Job. Ich mache das doch für uns beide, auch wenn ich nicht jede Stunde bezahlt bekomme.«
»Für uns? Was bringt uns das denn ein? Dein Laden wirft nicht gerade viel ab. Du wohnst in meiner Wohnung und fährst mit meinem Auto durch die Gegend.« Sie nahm den Kronkorken von der Anrichte und warf ihn in den Mülleimer. »Du trägst doch herzlich wenig zum Lebensunterhalt bei.«
Er stellte die Flasche ab und ging zu ihr. »Das wird besser«, sagte er und wollte sie umarmen.
Sie drehte sich weg. Das hatte sie schon oft gehört.
Im ersten halben Jahr mit Tommy war sie im Glücksrausch gewesen. Sie hatte fast nichts gegessen, fast nicht geschlafen, und jede Stunde, die sie getrennt waren, kam ihr sinnlos verschwendet vor. Sie war bis über beide Ohren verliebt gewesen und die gegenteiligen Meinungen ihrer Freundinnen hatten sie nur geärgert. Kaja, eine ihrer besten Freundinnen, hatte eines Abends mit einer Flasche Wein und guten Absichten vor ihrer Tür gestanden. Nach ein paar Gläsern war sie mit spießigen Ratschlägen und Kommentaren über Tommys Vergangenheit herausgerückt, seine fehlende Ausbildung, seine Familienverhältnisse – sie meinte, es sei offensichtlich, dass er nicht der passende Lebenspartner für Line war. Der Abend endete damit, dass Line sie rauswarf, gekränkt über Kajas mangelndes Vertrauen in sie und sich ihrer Liebe zu Tommy sicherer denn je.
Aber jetzt, da die größte Verliebtheit sich etwas gelegt hatte, musste sie widerwillig einräumen, dass Kaja vielleicht nicht ganz unrecht gehabt hatte. Mangelnde Ausbildung und ein paar Fehltritte in der Vergangenheit waren an sich kein Problem, aber es war, als blieben große Teile von Tommys Leben vor ihr verborgen. Und in den letzten Monaten war Angst an die Stelle des Glücks getreten. Sie war viel allein in der Wohnung, und vor einer Woche hatte sie etwas getan, von dem sie geschworen hätte, dass sie es niemals tun würde: Sie hatte Tommys SMS gelesen, während er unter der Dusche stand. Zitternd hatte sie seine Eingangsbox durchsucht, auf der Jagd nach einer Antwort auf Fragen, die sie Tag und Nacht quälten. Aber gebracht hatte es ihr nichts. Es gab keine Anzeichen von Untreue, nur geschäftsmäßige Verabredungen und anscheinend harmlose Nachrichten von Leuten, die mit Shazam Station zu tun hatten. Hinterher schämte sie sich, und das Einzige, was half, die Scham und die Unruhe zu vergessen, war, sich in Tommys Armen zu verlieren.
Sie war sich vollkommen im Klaren über das Klischeehafte in ihrem Leben und das machte die Sache nicht besser. Sie war es gewohnt, ihr Leben im Griff zu haben, auch nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie gewusst, wer sie war und was sie zu tun hatte. Aber jetzt war sie dabei, sich selbst zu verlieren. Und das war ein Zustand, der so nicht bleiben konnte, sie musste eine Zeit lang allein sein, den Kontakt zu alten Freundinnen wieder aufnehmen, Ausflüge machen, Sport treiben und herausfinden, was für ein Leben sie eigentlich führen wollte. Mit Tommy lebte sie von einem Tag auf den nächsten, sie hatte seinen Lebensstil angenommen, und ihr wurde immer klarer, dass dies nicht der Weg zu einem harmonischen Leben sein konnte. Sie war robust, aber sie brauchte eine gewisse Vorhersagbarkeit in ihrem Privatleben. Der Job war voller überraschender Wendungen und grotesker Ereignisse, da brauchte sie das sichere Gefühl, sich auf die Menschen, die ihr am nächsten standen, verlassen zu können. Und dieses Gefühl von Sicherheit hatte sie bei Tommy nicht. Er ließ sich nicht in die Karten schauen, er sagte mehr mit seiner Körpersprache aus als mit Worten, er wirkte nervös und rastlos, weigerte sich aber zuzugeben, dass ihn etwas quälte.
»Es geht nicht mehr«, wiederholte sie.
»Was meinst du?«
»Uns beide«, sagte sie und deutete von sich auf ihn. »Ich weiß nicht mehr, ob es das ist, was ich will.«
Er sagte nichts. Stand nur da und klammerte sich an die Bierflasche, die er wieder in die Hand genommen hatte und vor der Brust hielt, während er sie ansah.
»Ich brauche ein bisschen Zeit für mich«, sagte sie.
Das war vorsichtig
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