Winterjournal (German Edition)
seiner Freundin, ein gesunder Mann, dessen Herz unerklärlicherweise plötzlich stehenblieb. In den Jahren seit jenem Januartag 1979 hast du von zahlreichen Männern gehört, dies sei die beste Art zu sterben (der kleine Tod, der zum realen Tod wird), aber noch nie hast du das von einer Frau gehört, und du selbst findest es schrecklich, auf diese Weise abzutreten, und wenn du an die Freundin deines Vaters bei der Beerdigung denkst, an ihre völlig verstörte Miene (ja, hat sie gesagt, es war ganz und gar entsetzlich, das Entsetzlichste, das sie jemals durchgemacht habe), kannst du nur beten, dass deine Frau so etwas nie wird durchmachen müssen. Genau zweiunddreißig Jahre ist das her, und genauso lange beklagst du diesen allzu jähen Tod, weil dein Vater nicht mehr erleben durfte, dass sein nichtsnutziger Luftikus von einem Sohn doch nicht im Armenhaus gelandet ist, wie er immer befürchtet hatte, und weil noch einige Jahre ins Land gegangen wären, bis er das eingesehen hätte, und es macht dich traurig, dass du, als dein sechsundsechzig Jahre alter Vater in den Armen seiner Freundin starb, noch immer einen Kampf an allen Fronten führtest und keinen Schritt weitergekommen warst.
Nein, du willst nicht sterben, und obwohl du jetzt auf das Alter zugehst, in dem das Leben deines Vaters sein Ende fand, hast du noch mit keinem Friedhof Kontakt aufgenommen, um eine Grabstelle für dich zu organisieren, hast keins von den Büchern verschenkt, die du ganz bestimmt nicht noch einmal lesen wirst, und hast dich noch nicht einmal leise geräuspert, um deinen Abschied zu nehmen. Dabei hattest du vor dreizehn Jahren, nur einen Monat nach deinem fünfzigsten Geburtstag, während du unten in deinem Arbeitszimmer zum Mittagessen ein Thunfisch-Sandwich verzehrtest, deinen falschen Herzinfarkt, wie du es heute nennst – ein stetig zunehmender Schmerz, der sich durch deine Brust in den linken Arm und den Unterkiefer ausbreitete, die klassischen Symptome eines kardialen Erdbebens, des gefürchteten Herzkaspers, der das Leben eines Mannes binnen Minuten beenden kann, und als der Schmerz weiter loderte und die Ausmaße einer Feuersbrunst annahm, dein Inneres verbrannte und deine Brust in Flammen aufgehen ließ, bist du, geschwächt und benommen von der Attacke, taumelnd auf die Füße gekommen, mit beiden Händen am Geländer langsam die Treppe hochgegangen, auf dem Absatz der ersten Etage zusammengebrochen und hast mit kraftloser, kaum vernehmlicher Stimme nach deiner Frau gerufen. Sie kam von oben angerannt, und als sie dich auf dem Rücken liegen sah, nahm sie dich in die Arme und hielt dich fest, fragte, wo es weh tat, und sagte, sie werde den Arzt anrufen, und als du in ihr Gesicht sahst, warst du überzeugt, dass du sterben würdest, denn Schmerzen dieser Größenordnung konnten nur den Tod bedeuten, und was das Seltsame ist, vielleicht das Seltsamste, was du jemals erlebt hast: Du hattest keine Angst, du warst ganz ruhig und vollkommen einverstanden mit der Vorstellung, dass du drauf und dran warst, diese Welt zu verlassen, du hast dir gesagt: Das war’s, du wirst jetzt sterben, und vielleicht ist der Tod gar nicht so schlimm, wie du immer gedacht hast, denn hier liegst du in den Armen der Frau, die du liebst, und wenn du jetzt sterben musst, sei froh, dass du immerhin fünfzig Jahre lang gelebt hast. Du wurdest ins Krankenhaus gebracht und über Nacht in der Notaufnahme behalten, wo man alle vier Stunden dein Blut untersuchte, und am nächsten Morgen war aus dem Herzinfarkt eine Speiseröhrenentzündung geworden, zweifellos verschärft durch den kräftigen Schuss Zitronensaft in deinem Sandwich. Du hattest dein Leben zurückbekommen, dein Herz war gesund und schlug wie immer, und über diese guten Nachrichten hinaus hattest du gelernt, dass der Tod nichts ist, wovor du dich noch fürchten musst, dass, wenn es ans Sterben geht, der Mensch in eine andere Bewusstseinszone übertritt, in der er den Tod akzeptieren kann. Hattest du jedenfalls gedacht. Als dich fünf Jahre später deine erste Panikattacke befiel, die urplötzliche, monströse Attacke, die dir durch den Körper schoss und dich zu Boden warf, warst du nicht im Geringsten ruhig und einverstanden. Auch da hast du gedacht, du würdest sterben, aber diesmal hast du vor Angst geschrien, vor einer Angst, wie du sie noch nie zuvor erlebt hattest. So viel zu anderen Bewusstseinszonen und stillen Abschieden aus diesem Tal der Tränen. Du hast auf dem Boden gelegen und
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