Winterjournal (German Edition)
gebrüllt, aus vollem Hals gebrüllt, gebrüllt, weil der Tod in dir war und du nicht sterben wolltest.
Schnee, so viel Schnee in den vergangenen Tagen und Wochen, dass in weniger als einem Monat fast anderthalb Meter auf New York gefallen sind. Acht Schneestürme, neun Schneestürme, du kommst schon nicht mehr mit, und das typische Geräusch dieses Januars in Brooklyn war die Straßenmusik der Schneeschaufeln auf den Bürgersteigen und festgefrorenen Eisflächen. Extreme Kälte (an einem Morgen minus sechzehn Grad Celsius), Niesel- und Sprühregen, Nebel und Matsch, scharfer Wind, vor allem aber der Schnee, der nicht schmelzen will, und während ein Schneesturm dem anderen folgt, bekommen die Büsche und Bäume in deinem Garten immer längere und schwerere weiße Bärte. Ja, es scheint einer dieser speziellen Winter zu werden, aber trotz aller Kälte und Unannehmlichkeiten und deiner sinnlosen Sehnsucht nach dem Frühling kannst du die Vitalität dieses meteorologischen Spektakels nur bewundern und schaust mit derselben Ehrfurcht wie schon als kleiner Junge in den fallenden Schnee hinaus.
Raufen. Das Wort fällt dir jetzt ein, wenn du an die Freuden der Kindheit denkst (und nicht an die Leiden). Die Raufereien mit deinem Vater, rare Ereignisse, da er selten zu Hause war, wenn du wach warst (zur Arbeit, während du noch schliefst, nach Hause, wenn du schon wieder im Bett lagst), aber vielleicht gerade deshalb umso denkwürdiger, und die abenteuerliche Größe seines Körpers, seiner Muskeln, seine schiere Masse, wenn du in seinen Armen gezappelt und dich abgemüht hast, den König von New Jersey im Kampf Mann gegen Mann zu besiegen, und auch bei deinem vier Jahre älteren Cousin an den Sonntagnachmittagen, an denen du und deine Familie Tante und Onkel besuchtet, dieselbe überbordende Körperlichkeit, wenn du dich mit ihm auf dem Boden wälztest, die Wonnen dieser Körperlichkeit, die Hemmungslosigkeit. Laufen. Laufen und springen und klettern. Laufen, bis du dachtest, deine Lungen platzen, bis dir die Seite wehtat. Tag für Tag und bis in die Abende, in die langen, langsam verlöschenden Sommerdämmerungen hinein rennst du bis zur Erschöpfung draußen im Gras herum, der hämmernde Puls in deinen Ohren, der Wind in deinem Gesicht. Etwas später dann Tackle Football, Nachlaufen, Schwarzer Mann, Verstecken, wüste Rangeleien. Du und deine Freunde wart so flink, so flexibel, so versessen auf diese kriegerischen Spiele, dass ihr mit erbarmungsloser Wildheit aufeinander losgegangen seid, kleine Körper, die sich auf andere kleine Körper stürzten, die sich gegenseitig zu Boden warfen, an den Armen zerrten, am Hals packten, sich ein Bein stellten und schubsten, immer voller Einsatz, um das Spiel zu gewinnen – wie die Tiere wart ihr, wilde Tier durch und durch. Aber wie gut du damals geschlafen hast. Licht aus, Augen zu … und bis morgen.
Subtiler, schöner, auf Dauer befriedigender war dein stetig fortschreitendes Können im Baseball, dem gewaltlosen Sport, und die Leidenschaft dafür, die mit sechs oder sieben Jahren in dir entbrannte. Fangen und werfen, tief geschlagene Bälle erwischen, lernen, wo man sich zu jedem gegebenen Zeitpunkt im Lauf eines Spiels zu positionieren hat, abhängig vom Spielstand, von der Zahl der Runner auf Base, und im Voraus wissen, was du tun musst, sollte der Ball in deine Richtung geschlagen werden: zur Homeplate werfen, zum Second Base werfen, ein Double Play versuchen, oder aber, weil du Shortstop warst, nach einem Base Hit ins Left Field laufen und dich dann umdrehen, um den Ball zur korrekten Stelle auf dem Feld weiterzuwerfen. Keine langweilige Sekunde, trotz alldessen, was Kritiker des Spiels denken mögen: stets in gespannter Erwartung, immer in den Startlöchern, tausend Eventualitäten im Kopf, und dann die Explosion, der Ball, der auf dich zurast, und das dringende Verlangen zu tun, was getan werden muss, die schnellen Reflexe, die du für deine Aufgabe brauchst, und das herrliche Gefühl, einen links oder rechts von dir auf den Boden geschlagenen Ball aufzuheben und mit einem exakten Wurf zum First Base zu befördern. Aber das Größte war es, den Ball zu schlagen – in Stellung gehen, die Ausholbewegung des Pitchers verfolgen und den Ball frontal treffen –, zu fühlen, wie der Ball auf den Schläger traf, allein schon das Geräusch, während du den Schläger durchzogst und den Ball weit ins Outfield davonfliegen sahst. Nein, das war das Allergrößte,
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