Winterjournal (German Edition)
nie hast du jemals mehr Begeisterung verspürt als in solchen Momenten, und da du nach und nach immer besser darin wurdest, gab es viele solche Momente, und für die hast du gelebt, wie du für nichts anderes gelebt hast, völlig aufgegangen bist du in diesem sinnlosen Kinderspiel, denn das war damals für dich der Gipfel des Glücks, das Beste, wozu dein Körper imstande war.
Die Jahre, bevor Sex ins Spiel kam, bevor dir aufging, dass der kleine Feuerwehrmann zwischen deinen Beinen nicht nur dazu da war, dir beim Leeren deiner Blase zu helfen. Es muss wieder 1952 sein, vielleicht etwas früher oder etwas später, und du stellst deiner Mutter die Frage, die alle Kinder ihren Eltern stellen, die Standardfrage danach, woher die Babys kommen, anders gesagt, woher du selber kommst, die Frage nach dem Mysterium deines Eintritts in die Welt der Menschen. Deine Mutter antwortet so abstrakt, so ausweichend, so metaphorisch, dass du kein Wort verstehst. Sie sagt: Der Vater pflanzt den Samen in die Mutter, und nach und nach beginnt das Baby zu wachsen. In diesem Alter kennst du nur eine einzige Art von Samen, nämlich die, die an Blumen und Gemüse wachsen und die von den Bauern zur Saatzeit auf große Felder gestreut werden, damit im Herbst wieder etwas geerntet werden kann. Sogleich erscheint ein Bild vor deinem inneren Auge: Dein Vater, als Bauer verkleidet, die Karikatur eines Bauern in blauer Latzhose, einen Strohhut auf dem Kopf und einen mächtigen Rechen auf der Schulter, schreitet er beschwingt und munter über Felder und Wiesen, um
den Samen zu pflanzen
. Dies war für einige Zeit das Bild, das dir erschien, wann immer das Thema Babys zur Sprache kam: dein alter Herr als Bauer in blauer Latzhose, einen zerzausten Strohhut auf dem Kopf und einen Rechen auf der Schulter. Du wusstest jedoch, dass da etwas nicht stimmte, denn Samen wurden schließlich in die Erde gepflanzt, in Gärten oder auf Äckern, und weil deine Mutter weder ein Garten noch ein Acker war, ergab diese gartenbauliche Version von Aufklärung einfach keinen Sinn. Kann jemand noch dümmer sein als du damals? Du warst ein dummer kleiner Junge, dem der Grips fehlte, die Frage noch einmal zu stellen, tatsächlich aber hattest du Freude daran, dir deinen Vater als Bauern vorzustellen, ihn in dieser albernen Verkleidung zu sehen, und letzten Endes hättest du deine Mutter wahrscheinlich ohnehin nicht verstanden, wenn sie dir auf deine Frage eine präzisere Antwort gegeben hätte.
Einige Wochen oder Monate vor oder nach diesem Gespräch mit deiner Mutter war auf einmal der kleine Nachbarsjunge, der dir mit dem Spielzeugrechen auf den Kopf geschlagen hatte, spurlos verschwunden. Seine Mutter kam hysterisch in euren Garten gerannt, forderte dich und deine Freunde auf, ihn zu suchen, und sofort ging es los, hinein in das Grenzland aus verwilderten Sträuchern und Gestrüpp, das euch als Geheimversteck diente, laut den Namen des Jungen rufend, Michael, den ihr unter euch aber nur das Monster nanntet – ein brutaler Giftzwerg, der sein bisheriges Leben ausschließlich dem Terrorismus und der Gewalt gewidmet hatte. Du drangst in dichtes Buschwerk vor, schlugst dir Blätter aus dem Gesicht und bogst Zweige auseinander, immer gewärtig, den niederträchtigen Ausreißer plötzlich vor dir kauern zu sehen, stattdessen aber fandest du ein Wespen- oder Hornissennest, und kaum warst du da hineingetreten, flog ein Riesenschwarm dieser stechenden Kreaturen auf und attackierte dein Gesicht und deine Arme, und während du um dich schlugst, um sie zu verscheuchen, krochen dir andere in die Kleider und stachen dich in Beine, Brust und Rücken. Entsetzliche Schmerzen. Du ranntest, zweifellos schreiend wie am Spieß, aus dem Gebüsch in den Garten zurück, und da war deine Mutter, die dir, sobald sie dich erblickte, die Kleider vom Leib riss und, als du keinen Fetzen mehr anhattest, deinen nackten Körper in die Arme nahm und mit dir zum Haus lief. Drinnen trug sie dich nach oben, drehte das Wasser auf und setzte dich in ein kaltes, kaltes Bad.
Der Junge wurde gefunden. Wenn du dich richtig erinnerst, entdeckte man ihn bei sich zu Hause, auf dem Fußboden des Wohnzimmers schlafend, versteckt hinter dem Sofa oder unter einem Tisch, aber wenn es eines weiteren Beweises bedarf, dass er an diesem Tag weder gestorben noch verschwunden ist, brauchst du nur an den Nachmittag vier oder fünf Jahre später zu denken, als du mit einer Grippe im Bett lagst, krank und
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