Winterjournal (German Edition)
bürgerlichen Vorstadt Anfang der sechziger Jahre, dem ungeschriebenen Gesetz, dass Mädchen sich nicht an Jungen wegwerfen durften, dass anständige Mädchen einen Ruf zu wahren hatten, dass mehr als Küssen und Petting nicht drin war, und die Rede ist hier von der unbedenklichsten Form des Pettings, wo der Junge eine Hand auf eine von zwei oder drei Schichten Kleidung bedeckte Brust legte, Pullover (je nach Jahreszeit), Bluse und BH , aber wehe dem Jungen, der eine Hand unter die Bluse zu schieben versuchte oder gar in die Sperrzone im Innern des BH s vorzudringen wagte, denn diese Hand wurde von dem Mädchen, das einen Ruf zu wahren hatte, auf der Stelle weggeschoben, selbst wenn das Mädchen insgeheim die Hand dort ebenso sehr haben wollte wie der Junge. Wie viele Abfuhren dieser Art hast du erlebt, fragst du dich, wie viele nutzlose Exkursionen in die Röcke und Blusen deiner Gefährtinnen haben deine Hände unternommen, wie viele Reisen dem Reich nackter Haut entgegen, bevor sie am Eingang zurückgewiesen wurden? So sahen sie aus, die kümmerlichen Verhältnisse am Beginn deines erotischen Lebens. Nackte Haut verboten, ausziehen verboten, und komm bloß nicht auf die Idee, Genitalien hätten etwas mit dem Spiel zu tun, das du spielst. Und so küsst ihr euch weiter, du und Linda, ihr küsst euch, dann küsst ihr euch noch ein bisschen mehr, ihr küsst euch, bis eure Lippen wund sind und euch der Speichel über die Wangen läuft, und du kannst die ganze Zeit nur beten, dass die Erektion in deiner Hose nicht explodieren wird.
Du lebst in einer Hölle aus Frustration und permanenter sexueller Erregung, brichst in den Jahren 1961 und 1962 allmonatlich den nordamerikanischen Masturbationsrekord, Onanist nicht aus freier Entscheidung, sondern aufgrund der Umstände, gefangen in deinem ständig wachsenden, ständig sich verändernden Körper, der eins siebenundfünfzig große Dreizehnjährige ist zu einem eins siebenundsiebzig großen Fünfzehnjährigen geworden, immer noch ein Junge, mag sein, aber ein Junge im Körper eines Mannes, der sich mehrmals die Woche rasiert, der Haare auf Unterarmen und Beinen hat, Haare in den Achselhöhlen, Schamhaare, denn er ist nicht mehr in der Pubertät, sondern fast vollständig ausgebildet, und während du dich weiter mit deinen Schulaufgaben und sportlichen Aktivitäten herumschlägst und immer tiefer ins Universum der Bücher vordringst, wird dein Leben von deinem ungestillten sexuellen Verlangen beherrscht, glaubst du buchstäblich zu verhungern, und kein Ziel ist dir wichtiger, nichts ist wesentlicher für das Wohlergehen deines schmerzenden, schmachtenden Ichs, als so schnell wie möglich deine Unschuld zu verlieren. Das jedenfalls ist dein sehnlichster Wunsch, doch nirgendwo steht geschrieben, dass Wünsche erfüllt werden müssen, und so geht die Folter weiter, einen Tag um den andern nichts als fieberhafter Verzicht, das ganze Jahr 1962 hindurch und bis in den Herbst 1963 , als sich endlich, endlich eine Gelegenheit bietet, und mag sie auch nicht gerade ideal sein, ganz und gar nicht das, was du dir vorgestellt hast, zögerst du doch keine Sekunde und sagst ja. Du bist sechzehn Jahre alt. Im Juli und August hast du als Kellner in einem Sommerlager oben in New York gejobbt, und ein Kollege, ein lustiger, zungenfertiger Bursche aus Queens (ein Städter, der sich in den Straßen von New York City auskennt – im Gegensatz zu dir, der sich in fast gar nichts auskennt), ruft an und erzählt, er habe die Adresse und Telefonnummer eines Bordells an der Upper West Side aufgetan. Er werde einen Termin für dich arrangieren, wenn du willst, und da du in der Tat willst, fährst du am folgenden Samstag mit dem Bus in die Stadt und triffst dich mit deinem Kumpel vor einem Wohnhaus irgendwo in den Eighties, nicht weit vom Fluss. Es ist ein feuchter, niesliger Nachmittag Ende September, alles ist grau und nass, Schirmwetter, zumindest sollte man einen Hut tragen, aber du hast weder einen Schirm noch einen Hut dabei, bloß macht das nichts, überhaupt nichts, denn das Wetter ist das Letzte, worüber du dir jetzt den Kopf zerbrichst. Das Wort
Bordell
hat eine Flut verlockender Bilder vor dein inneres Auge gezaubert, und du erwartest, gleich in ein großes, üppig ausgestattetes Etablissement mit roten Samttapeten und fünfzehn oder zwanzig charmanten jungen Frauen einzutreten (welcher miese Film hat dir
das
in den Kopf gepflanzt?), doch als du und dein Freund in den Aufzug steigt, den
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