Winterjournal (German Edition)
Literaturwissenschaft studiertest, obwohl du von Anfang an wusstest, dass du höchstens ein Jahr lang durchhalten würdest, aber da die Universität dir ein Stipendium und eine regelrechte Besoldung angetragen hatte, hast du an deiner Magisterarbeit gearbeitet, die zu einem sechzigseitigen Essay mit dem Titel «Die Kunst des Hungers» wurde (es ging um Werke von Hamsun, Kafka, Céline und Beckett), hast dich hin und wieder mit Edward Said, deinem Professor, beraten, eine Reihe obligatorischer Seminare besucht, deine Vorlesungen geschwänzt und weiter an deinen eigenen Geschichten und Gedichten geschrieben, von denen jetzt die ersten in kleinen Zeitschriften zu erscheinen begannen. Am Ende des Jahres bist du wie geplant aus dem Programm und überhaupt aus dem Studentenleben ausgestiegen und hast einen Job auf einem Esso-Öltanker angenommen, der zwischen verschiedenen Raffinerien im Golf von Mexiko und an der Atlantikküste hin- und herfuhr – der Job wurde gut bezahlt, und deine Hoffnung war, davon einen längeren Aufenthalt in Paris finanzieren zu können. Deine Freundin suchte zwecks Kostensenkung eine Mitbewohnerin für die Monate deiner Abwesenheit und fand eine zungenfertige, scharfsinnige junge Weiße, die ihren Lebensunterhalt damit verdiente, dass sie bei einem schwarzen Radiosender als schwarze Sprecherin auftrat – anscheinend mit großem Erfolg, was dich zwar sehr amüsierte, aber wie sollte man nicht auch darin ein weiteres Zeichen der Zeit sehen, ein weiteres Beispiel für die Irrenhauslogik, die von der amerikanischen Realität Besitz ergriffen hatte? Was dich und deine Freundin betraf, war das Experiment eheähnlichen Zusammenlebens eine ziemliche Enttäuschung gewesen, und als du dich nach der Rückkehr von deinem Ausflug mit der Handelsmarine auf die Parisreise vorzubereiten begannst, wart ihr euch einig, dass eure Liebesaffäre sich im Sande verlaufen hatte und du die Fahrt alleine machen würdest. Eines Nachts etwa zwei Wochen vor dem Abreisetermin rebellierte dein Magen, und während du dich zusammengekrümmt auf dem Bett wandest, wühlten Schmerzen in deinen Eingeweiden, so heftig, so hartnäckig, so unerträglich, als hättest du zum Abendessen einen Topf voll Stacheldraht verschlungen. Die einzige plausible Erklärung dafür war ein Blinddarmdurchbruch, und der musste, nahmst du an, unverzüglich operiert werden. Es war zwei Uhr morgens. Du kamst in die Notaufnahme des St. Luke’s Hospital getaumelt, musstest ein oder zwei entsetzliche Stunden warten, und als dich endlich ein Arzt untersuchte, erklärte er zuversichtlich, mit deinem Blinddarm sei alles in Ordnung. Stattdessen hättest du einen schlimmen Fall von Gastritis. Nehmen Sie diese Pillen, sagte er, vermeiden Sie heiße und scharfe Speisen, dann wird es Ihnen bald besser gehen. Sowohl die Diagnose als auch die Vorhersage erwiesen sich als zutreffend, und erst später, viele Jahre später, hast du begriffen, was da mit dir los gewesen war. Du hattest Angst – aber Angst, ohne zu wissen, dass du Angst hattest. Die Aussicht, dich zu entwurzeln, hatte dich in einen Zustand äußerster, jedoch vollständig unterdrückter Besorgnis versetzt; der Gedanke, mit deiner Freundin Schluss zu machen, hatte dich zweifellos sehr viel stärker aufgewühlt, als du dir vorgestellt hattest. Du wolltest allein nach Paris fahren, aber ein Teil von dir geriet ob einer so drastischen Veränderung in Panik, und deshalb drehte dein Magen durch und wollte dich in Stücke reißen. Das ist die wiederkehrende Geschichte deines Lebens. Wann immer du an eine Weggabelung kommst, bricht dein Körper zusammen, denn dein Körper hat schon immer gewusst, was dein Kopf nicht weiß, und wie er auch zusammenbrechen mag, ob in Form von Drüsenfieber, Gastritis oder Panikattacken, hat er immer die Hauptlast deiner Ängste und inneren Kämpfe getragen und die Schläge eingesteckt, die dein Kopf nicht auszuhalten bereit oder imstande ist.
[ 10 .] 3 , rue Jacques Mawas; 15 . Arrondissement, Paris. Und noch eine Zweizimmerwohnung mit Essküche, diesmal im dritten Stock eines sechsstöckigen Gebäudes. Alter: 24 . Kurz nach deiner Ankunft in Paris (am 24 . Februar 1971 ) bekamst du Zweifel, ob die Trennung von deiner Freundin richtig gewesen sei. Du schriebst ihr einen langen Brief, fragtest sie, ob sie den Mut habe, es noch einmal mit dir zu versuchen, und als sie ja sagte, nahmst du deine gute/schlechte, mehrmals unterbrochene, problematische Beziehung zu ihr wieder auf.
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