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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Augen), ansonsten aber ist dir jetzt nur noch ein gewisses Unbehagen gegenwärtig, ein starkes Verlangen, woanders zu sein. Der Krieg in Vietnam verschärfte sich, Amerika war gespalten, es herrschte eine bedrückende Atmosphäre, die dir geradezu die Luft zum Atmen nahm. Für das dritte Collegejahr hast du dich mit Schubert beim staatlichen Förderprogramm um ein Auslandsstudium in Paris beworben: Im Juli hast du New York verlassen, im August bist du mit dem Leiter des Programms in Streit geraten und ausgestiegen, danach bis Anfang November als Nichtstudent, als Exstudent, in einem primitiven kleinen Hotel geblieben (kein Telefon, kein eigenes Bad), wo du allmählich wieder Luft bekamst, dich dann aber zur Rückkehr an die Columbia bereden ließest, ein vernünftiger Schritt angesichts der möglichen Einberufung und deiner Opposition gegen den Krieg, aber die Auszeit hatte dir geholfen, und als du widerstrebend nach New York zurückgekehrt warst, kamen die schlimmen Träume nicht wieder.
    [ 8 .] 601  West 115 th Street; Manhattan. Noch eine seltsam geschnittene Zweizimmerwohnung nicht weit vom Broadway, jedoch in einem sehr viel solideren Gebäude als die vorige und mit dem zusätzlichen Vorteil, dass es zwischen dem größeren und dem kleineren Zimmer eine richtige Küche gab, groß genug (gerade so), einen winzigen Klapptisch hineinzuzwängen. Alter: 20 bis 22 . Deine erste Solowohnung, auch tagsüber finster aufgrund ihrer Lage im ersten Stock, im Übrigen aber hinreichend, behaglich, deinen aktuellen Bedürfnissen angemessen. Dort verbrachtest du das dritte und vierte Studienjahr, wilde Jahre an der Columbia, die Jahre der Demonstrationen und Sit-ins, der Studentenstreiks und Polizeiübergriffe, der Campuskrawalle, Relegationen und Polizeitransporter, die Hunderte ins Gefängnis karrten. Du hast fleißig deinen Lernstoff gebüffelt, Gedichte geschrieben und Gedichte übersetzt und mehrere Kapitel eines Romans fertiggestellt, den du schließlich aufgegeben hast, aber 1968 hast du auch an den wochenlangen Sit-ins teilgenommen, bis man dich eines Tages in einen Polizeiwagen stieß und in eine Gefängniszelle sperrte. Wie schon erwähnt, hattest du vor langer Zeit aufgehört, dich zu prügeln, und als die Polizei die Tür des Hörsaals aufbrach, wo du und andere Studenten auf ihre Verhaftung warteten, dachtest du gar nicht daran, dich zu wehren, aber ebenso wenig wolltest du kooperieren und den Saal auf deinen eigenen Füßen verlassen. In der Annahme, die Cops würden dich ohne große Umstände raustragen, bliebst du schlaff auf dem Fußboden sitzen – die klassische Strategie des passiven Widerstands, entwickelt in den Südstaaten zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung –, aber die Polizisten der Sondereinheit hatten an diesem Abend schlechte Laune, der Campus, in den sie einmarschiert waren, war zu einem blutigen Schlachtfeld geworden, und dein gewaltloses, von hehren Grundsätzen bestimmtes Verhalten interessierte sie nicht die Bohne. Sie traten dich und zerrten an deinen Haaren, und als du immer noch nicht aufstehen wolltest, stieg einer von ihnen dir mit dem Stiefelabsatz auf die Hand – ein Volltreffer, von dem dir noch tagelang schmerzhaft geschwollene Knöchel blieben. Die Morgenausgabe der
Daily News
brachte ein Foto von dir, wie du in den Polizeitransporter geschleift wurdest. Bildunterschrift:
Störrischer Junge
, und zweifellos warst du in diesem Augenblick deines Lebens genau dies: ein störrischer, unkooperativer Junge.
    [ 9 .] 262  West 107 th Street; Manhattan. Und noch eine Zweizimmerwohnung mit Essküche, aber nicht seltsam geschnitten wie die anderen, ein großes Zimmer und ein etwas kleineres Zimmer, aber selbst dieses kleine Zimmer war geräumig, ganz anders als die sarggroßen Löcher der vorigen zwei. Oberste Etage eines neunstöckigen Gebäudes zwischen Broadway und Amsterdam Avenue, also mehr Licht als in den anderen New Yorker Wohnungen, das Haus jedoch schäbiger als das davor, lasch und planlos instand gehalten von dem immer gutgelaunten Hausmeister, einem kräftigen, breitschultrigen Mann namens Arthur. Alter: 22 bis zwei Wochen nach deinem 24 . Geburtstag, insgesamt anderthalb Jahre. Dort hast du mit deiner Freundin gewohnt, für euch beide der erste Versuch, mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts zusammenzuleben. Im ersten Jahr machte deine Freundin am Barnard College ihren Bachelor of Arts, während du an der Columbia im Doktorandenprogramm vergleichende

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