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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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anscheinend als enormes Getöse an, ein Donnergeräusch, als würde jemand mit voll aufgedrehtem Hahn ein Bad einlaufen lassen. Das wurde dir erst bewusst, als dir eines Tages ein Brief unter der Tür durchgeschoben wurde. Er kam von einer gewissen Madame Rubinstein, die unter dir wohnte (wie sehr es wohl den Klavierstimmer schockiert hätte, zu erfahren, dass unter seiner Kriegsadresse immer noch einige untote Israeliten lebten). In dem Brief beschwerte sie sich empört über den unerträglichen Lärm deiner mitternächtlichen Bäder und teilte dir mit, sie habe den Vermieter in Arras von deinem unmöglichen Benehmen informiert, und wenn er nicht auf der Stelle die Zwangsräumung in die Wege leite, werde sie die Polizei einschalten. Du warst erstaunt über das Ungestüm ihres Tons, verwundert, dass sie nicht einfach bei dir angeklopft und das Problem von Angesicht zu Angesicht mit dir besprochen hatte (in New Yorker Wohnhäusern pflegten Mieter etwaige Differenzen auf diese Weise beizulegen), sondern hinter deinem Rücken Kontakt mit der
Obrigkeit
aufgenommen hatte. Das war die französische Art, im Gegensatz zur amerikanischen – ein grenzenloses Vertrauen auf die Machtverhältnisse, ein blinder Glaube an die Fähigkeit der Bürokratie, Missstände abzustellen und selbst kleinste Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Du hattest diese Frau nie kennengelernt, wusstest nicht einmal, wie sie aussah, und plötzlich überhäufte sie dich mit wüsten Beschimpfungen und erklärte dir den Krieg wegen einer Sache, von der du bis dahin gar nichts mitbekommen hattest. Um einem, wie du glaubtest, drohenden Rausschmiss zu entgehen, schriebst du an den Vermieter, stelltest ihm deine Seite der Geschichte dar und versprachst, die defekte Toilette reparieren zu lassen, und wenig später kam sein netter, absolut erfreulicher Antwortbrief: Bei jungen Leuten müsse man schon mal ein Auge zudrücken, leben und leben lassen, keine Sorge, aber bitte sachte mit der Hydrotherapie, ja? (Der garstige Franzose im Gegensatz zum gutmütigen Franzosen: In den dreieinhalb Jahren, die du unter ihnen lebtest, hast du einige der kältesten, gemeinsten Bewohner der Erde kennengelernt, aber auch einige der wärmsten, großzügigsten Menschen aller Zeiten.) Eine Zeitlang herrschte Frieden. Du hattest Madame Rubinstein immer noch nicht gesehen, aber die Klagen von unten hatten aufgehört. Dann traf aus New York deine Freundin ein, und bald war die stille Wohnung von ihrem Klavierspiel erfüllt, und da du Musik mehr liebtest als alles andere, konntest du dir nicht vorstellen, dass irgendjemand an den aus dem dritten Stock dringenden Meisterwerken Anstoß nehmen könnte. Eines Sonntagnachmittags jedoch – eines besonders schönen Sonntagnachmittags im Spätfrühling, während du auf der Couch saßt und deiner Freundin lauschtest, die Schuberts
Moments Musicaux
spielte – drang von unten plötzlich ein Chor wütender Stimmen herauf. Die Rubinsteins hatten Gäste, und die brüllten durcheinander: «Unerhört! Schluss damit! Jetzt reicht’s!» Dann hämmerte jemand mit einem Besenstiel genau unter dem Klavier an die Decke, und eine Frauenstimme schrie: «Aufhören! Sofort Schluss mit diesem Höllenlärm!» Dir reichte es jetzt auch, und während die Stimme unten weiter zeterte, bist du aus deiner Wohnung und die Treppe hinuntergerannt und hast bei den Rubinsteins angeklopft – und zwar kräftig. Die Tür ging binnen drei Sekunden auf (zweifellos hatten sie dich kommen hören), und mit einem Mal standest du der bis dahin unsichtbaren Madame Rubinstein von Angesicht zu Angesicht gegenüber, die sich als attraktive Frau von Mitte vierzig entpuppte (warum neigt man immer zu der Vermutung, unangenehme Menschen seien hässlich?), und ohne jedes Vorgeplänkel begannt ihr beide euch aus vollem Hals anzuschreien. Du warst kein besonders reizbarer Mensch, es fiel dir selten schwer, Ruhe zu bewahren, normalerweise gabst du dir alle Mühe, einem Streit auszuweichen, aber an diesem Tag warst du außer dir vor Zorn, und da der Zorn dein Französisch so schnell und präzise machte wie nie zuvor, tratet ihr zwei als ebenbürtige Gegner in der Kunst des Wortgefechtes an. Deine Position: Wir haben jedes Recht, an einem Sonntagnachmittag Klavier zu spielen, überhaupt an jedem Nachmittag, zu jeder Tageszeit an jedem Tag, es darf nur nicht zu früh oder zu spät sein. Ihre Position: In diesem Haus wohnen ehrbare Bürger; wenn Sie Klavier spielen wollen, mieten Sie ein

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