Winterjournal (German Edition)
Sie wollte Anfang April in Paris zu dir stoßen; unterdessen suchtest du eine möblierte Wohnung (auf dem Tanker hattest du gut verdient, aber nicht genug, um dir Möbel leisten zu können), und bald war die Wohnung in der rue Jacques Mawas gefunden, zwei saubere, helle, nicht zu teure Zimmer, und ein Klavier stand auch darin. Da deine Freundin eine ausgezeichnete und begeisterte Klavierspielerin war (Bach, Mozart, Schubert, Beethoven), nahmst du die Wohnung auf der Stelle und freutest dich schon im Voraus mit ihr über diesen Glücksfall. Nicht nur Paris, sondern Paris mit einem Klavier. Du zogst ein, und nach Anschaffung der wichtigsten Haushaltsgegenstände (Bettzeug, Kochtöpfe und Pfannen, Geschirr, Handtücher, Besteck) bestelltest du jemanden, der das verstimmte Klavier, auf dem seit Jahren niemand mehr gespielt hatte, stimmen sollte. Am nächsten Tag kam ein Blinder (du hast selten Klavierstimmer kennengelernt, die nicht blind sind), ein korpulenter Mann von etwa fünfzig Jahren mit talgweißem Gesicht und weit nach oben verdrehten Augen. Eine seltsame Erscheinung, fandest du, aber nicht nur wegen der Augen. Es war die Haut, bleich wie ein Bovist, schwammig und mürbe, als ob er irgendwo unter der Erde lebte und kein Licht an sein Gesicht ließe. Begleitet wurde er von einem jungen Mann von achtzehn oder zwanzig Jahren, der ihn am Arm durch die Wohnungstür und zu dem Instrument im hinteren Zimmer führte. Der junge Mann sprach während des ganzen Besuchs kein Wort, weshalb du nicht erfuhrst, ob er ein Sohn, Neffe, Cousin oder ein angestellter Begleiter war, aber der Stimmer war ein gesprächiger Bursche, und nach beendeter Arbeit plauderte er noch eine Weile mit dir. «Diese Straße», sagte er, «die rue Jacques Mawas im fünfzehnten Arrondissement. Die Straße ist recht kurz, nicht wahr? Nur ein paar Häuser, wenn ich nicht irre.» Du sagtest, er irre sich nicht, die Straße sei in der Tat recht kurz. «Ist es nicht komisch», fuhr er fort, «aber ich habe im Krieg hier gewohnt. Damals hat man hier leicht eine Wohnung finden können.» Du fragtest, warum. «Weil hier», sagte er, «früher viele Israeliten gelebt haben; aber als der Krieg anfing, sind sie fortgegangen.» Du hast nicht sofort begriffen, was er dir zu sagen versuchte – oder du hast nicht glauben wollen, was er da sagte. Vielleicht hat das Wort
Israelit
dich ein wenig aus dem Konzept gebracht, aber dein Französisch war gut genug, dass du wusstest, dies war kein ungewöhnliches Synonym für das Wort
juif
(Jude), zumindest für Angehörige der Kriegsgeneration, aber deiner Erfahrung nach hatte es immer etwas Herabsetzendes gehabt, nichts ausgesprochen Antisemitisches, eher schien es, dass die Franzosen sich damit von den Juden distanzierten und dieses Volk zu etwas Fremdem und Exotischem machten, dieses eigenartige, uralte Volk mit seinen komischen Bräuchen und seinem rachsüchtigen, primitiven Gott. Das war schon schlimm genug, aber der zweite Teil des Satzes ließ eine solche Ahnungslosigkeit oder aber ein solch böswilliges Nichtwahrhabenwollen erkennen, dass du dir nicht sicher warst, ob du es mit dem größten Einfaltspinsel der Welt oder mit einem ehemaligen Kollaborateur der Vichy-Regierung zu tun hattest.
Sie sind fortgegangen
. Zweifellos auf eine Luxusweltreise, auf einen fünf Jahre langen Badeurlaub am Mittelmeer, zum Tennis auf den Florida Keys oder zum Tanzen an den Stränden Australiens. Du wolltest den Blinden so schnell wie möglich loswerden, du wolltest ihn nicht mehr sehen, dennoch konntest du, als du ihm seinen Lohn gabst, eine letzte Frage nicht zurückhalten. «Oh», sagtest du, «und wo sind sie hin, als sie fortgegangen sind?» Der Klavierstimmer hielt inne, als suche er nach einer Antwort, und als er keine fand, grinste er dich kleinlaut an. «Ich habe keine Ahnung», sagte er, «aber die meisten sind nicht zurückgekommen.» Das war die erste von mehreren Lektionen über die Art der Franzosen, die dir in diesem Haus erteilt wurden – die nächste kam ein paar Wochen später unter der Überschrift «Krieg der Rohre». Die Rohrleitungen in deiner Wohnung waren alles andere als neu, und die Spülung der Toilette mit dem Tank oben an der Wand funktionierte nicht richtig. Jedes Mal, wenn du abzogst, lief das Wasser reichlich lange und unter beträchtlichem Lärm aus dem Spülkasten. Für dich war das Rauschen der Spülung nebensächlich, nur eine kleinere Unannehmlichkeit, aber in der Wohnung unter deiner kam es
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