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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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allzu weit entfernten Maplewood, und mochtest du die Schule auch nur mechanisch hinter dich bringen, warst du jetzt frei, der Aufsicht der Erwachsenen entronnen, konntest kommen und gehen, wie du wolltest, und machtest dich bereit, aus dem Nest zu fliegen.
    [ 6 .] Suite 814 A, Carman Hall; Wohnheim der Columbia University. Zwei Zimmer pro Suite, zwei Bewohner pro Zimmer. Betonwände, Linoleumfußböden, zwei Betten längsseits hintereinander unterm Fenster, zwei Schreibtische, ein eingebauter Kleiderschrank und ein von den Bewohnern der Suite 814 A gemeinsam genutztes Bad. Alter: 18 bis 19 . Die Carman Hall war das erste neue Wohnheim, das seit mehr als einem halben Jahrhundert auf dem Campus der Columbia errichtet wurde. Karg, hässlich und reizlos, aber immer noch besser als die Verliese in den älteren Wohnheimen (Furnald, Hartley), wo du gelegentlich Freunde besuchtest und entsetzt warst über den Gestank schmutziger Socken, die engen Etagenbetten, die ewige Finsternis. In der Carman Hall hast du den New Yorker Stromausfall von 1965 erlebt (überall Kerzen, eine anarchische Feierstimmung), am deutlichsten aber erinnerst du dich an die Hunderte von Büchern, die du auf deinem Zimmer gelesen hast, und die Mädchen, die hin und wieder in deinem Bett gelandet sind. Die Universitätsverwaltung hatte die Hausordnung des reinen Jungen-Colleges just zu Beginn deines Studiums gelockert, jetzt durften sich auch Mädchen in den Zimmern aufhalten – bei geschlossener Tür. Bis dahin hatten sie zunächst nur bei offener Tür im Zimmer sein dürfen, dann kam eine zweijährige Phase, wo die Tür um eine Buchbreite geöffnet bleiben musste, bis ein schlauer Bursche mit der Spitzfindigkeit eines Talmudgelehrten auf die Idee kam, ein Streichholzheftchen zu benutzen (ist ja auch eine Art Buch), und man endgültig auf die Forderung nach offenen Türen verzichtete. Dein Zimmergenosse war ein Kindheitsfreund. Er begann gleich im ersten Semester mit Drogen zu experimentieren, geriet im Lauf des Jahres immer tiefer hinein und schlug alle deine Ermahnungen in den Wind. Du konntest nur hilflos zusehen, wie er verfiel. Im nächsten Herbst brach er das Studium ab – und verschwand für immer. Das erklärt, warum du dich in jenen wilden Sechzigern geweigert hast, mit Drogen zu experimentieren. Alkohol ja, Tabak ja, aber keine Drogen. Als du 1969 dein Examen ablegtest, waren zwei andere Kindheitsfreunde bereits an einer Überdosis gestorben.
    [ 7 .] 311  West 107 th Street; Manhattan. Eine Zweizimmerwohnung auf der dritten Etage eines vierstöckigen Hauses zwischen Broadway und Riverside Drive, kein Aufzug. Alter: 19 bis 20 . Deine erste Wohnung, gemeinsam mit Peter Schubert, deinem Kommilitonen und besten Freund in jenen frühen Studientagen. Ein heruntergekommenes, schlecht konzipiertes Drecksloch, für das allein die niedrige Miete sowie die Tatsache sprach, dass es zwei Eingangstüren gab. Die erste führte in das größere Zimmer, das dir als Schlaf- und Arbeitszimmer und euch als Küche, Ess- und Wohnzimmer diente. Die zweite ging auf einen schmalen Flur, der parallel zu deinem Zimmer lief und zu einer kleinen Zelle führte, die Peter als Schlafzimmer nutzte. Ihr zwei wart erbärmliche Haushalter, die Zimmer starrten vor Schmutz, ständig war die Spüle verstopft, die vorhandenen Gerätschaften waren älter als ihr und kaum noch funktionstüchtig, Staub sammelte sich in dicken Flocken auf dem fadenscheinigen Teppich, und so wurde die Bruchbude, die ihr gemietet hattet, unter euren Händen nach und nach zu einem übelriechenden Slum. Da es zu deprimierend war, dort zu essen, und da keiner von euch kochen konnte, zogt ihr es vor, in billige Restaurants zu gehen, zum Frühstück ins Tom’s oder ins College Inn, wobei letzteres wegen seiner großartigen Musikbox (Billie Holiday, Edith Piaf) allmählich in den Vordergrund rückte, und Abend für Abend ins Green Tree, ein ungarisches Lokal an der Kreuzung Amsterdam Avenue und West 111 th Street, wo ihr von Gulasch, zerkochten grünen Bohnen und schmackhaftem
palačinka
zum Nachtisch lebtet. Aus irgendeinem Grund kannst du dich an die Geschehnisse in dieser Wohnung nur undeutlich erinnern, weniger deutlich als an die in anderen, in denen du davor und danach gelebt hast. Es war eine Zeit schlimmer Träume – vieler schlimmer Träume –, daran erinnerst du dich gut (auch das Montaigne-Seminar mit Donald Frame und die Milton-Vorlesung mit Edward Taylor stehen dir noch lebhaft vor

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