Winterjournal (German Edition)
Studio; wir sind brave ehrbare Bürger, und das heißt, wir halten uns an die Regeln und benehmen uns wie zivilisierte Menschen; laute Geräusche sind verboten; voriges Jahr hat ein Polizist in Ihrer Wohnung gewohnt, den haben wir aus dem Haus werfen lassen, weil er so unregelmäßig gekommen und gegangen ist; wir sind anständige Bürger; auch wir haben ein Klavier in unserer Wohnung, aber haben wir
jemals
darauf gespielt? Nein, natürlich nicht. Ihre Argumente waren für dich nur lahme, klischeebeladene Tautologien, komische Behauptungen, die von Molières Monsieur Jourdain hätten kommen können, aber ihr hattet eine feste Mauer aus Feindschaft zwischen euch errichtet, und als du dir ausmaltest, welch bittere Zukunft dich erwartete, wenn ihr weiter so aufeinander losgehen würdet, kamst du zu dem Schluss, es sei an der Zeit, deine Trumpfkarte zu ziehen, das Steuer herumzuwerfen und den Streit in eine andere Bahn zu lenken. Wie traurig, sagtest du, wie furchtbar traurig und beklagenswert, dass zwei Juden so miteinander streiten; denken Sie daran, Madame Rubinstein, wie viel Leid und Tod und welche Schrecken unser Volk erdulden musste, und wir schreien uns hier an wegen nichts; wir sollten uns schämen. Der Trick funktionierte, wie von dir erhofft. Etwas an der Art, wie du das gesagt hattest, drang zu ihr durch, und plötzlich war der Streit beendet. Von diesem Tag an war Madame Rubinstein keine Widersacherin mehr. Wann immer ihr euch auf der Straße oder im Hauseingang traft, grüßte sie dich lächelnd mit der für solche Begegnungen vorgesehenen Formel:
Bonjour, monsieur
, worauf du höflich und ebenfalls lächelnd antwortetest:
Bonjour, madame
. So war das Leben in Frankreich. Die Leute drängten aus Gewohnheit, drängten aus Vergnügen am Drängen und drängten so lange, bis man ihnen zeigte, dass man auch zurückdrängen konnte: Erst dann erwiesen sie einem Respekt. Dazu kam, dass du und Madame Rubinstein Juden wart, und schon deshalb gab es keinen Grund zum Streiten mehr, ganz gleich, wie oft deine Freundin Klavier spielte. Es widerte dich an, dass du auf ein so hinterlistiges Mittel zurückgegriffen hattest, aber die Trumpfkarte hatte ihren Zweck erfüllt und dir für den Rest deiner Zeit in der rue Jacques Mawas Frieden erkauft.
[ 11 .] 2 , rue du Louvre; 1 . Arrondissement, Paris. Ein Dienstmädchenzimmer
(chambre de bonne)
im obersten Stock eines sechsstöckigen Gebäudes unweit der Seine. Alter: 25 . Das Zimmer ging nach hinten, und wenn du aus dem Fenster sahst, fiel dein Blick auf einen Wasserspeier des Glockenturms der Kirche nebenan – Saint-Germain l’Auxerrois, die Kirche, deren Glocken am 24 . August 1572 ununterbrochen läuteten, um die Nachricht vom Massaker der Bartholomäusnacht zu verkünden. Linker Hand sahst du den Louvre. Rechter Hand sahst du Les Halles, und weit weg am Nordrand von Paris die weiße Kuppel von Montmartre. Das Zimmer war der kleinste Raum, den du je bewohnt hattest, so klein, dass nur das Allernotwendigste hineinpasste: ein schmales Bett, ein winziger Tisch mit Stuhl, ein Waschbecken und noch ein Stuhl neben dem Bett, auf dem deine elektrische Kochplatte und dein einziger Topf standen, den du brauchtest, um Wasser für löslichen Kaffee und zum Eierkochen heiß zu machen. Toilette am Ende des Gangs; keine Dusche, kein Bad. Du lebtest dort, weil du knapp bei Kasse warst und man dir das Zimmer umsonst überlassen hatte. Diese außerordentliche Wohltat verdanktest du deinen Freunden Jacques und Christine Dupin (bessere Freunde kann man sich nicht wünschen – geheiligt seien ihre Namen in Ewigkeit), die unten im zweiten Stock eine große Wohnung hatten, und da das Gebäude aus der Haussmann-Epoche stammte, gehörte zu der Wohnung auch ein Dienstmädchenzimmer in der obersten Etage. Du lebtest allein. Wieder einmal hatte es mit dir und deiner Freundin nicht geklappt, und wieder einmal hattet ihr euch getrennt. Jetzt lebte sie mit einer Highschool-Freundin im Westen Irlands, in einem mit Torf beheizten Häuschen ein paar Meilen außerhalb von Sligo, und einmal bist du sogar nach Irland gereist, um sie womöglich zurückzugewinnen, aber aus deiner edlen Geste konnte nichts werden, da sie unterdessen ihr Herz an einen jungen Iren verloren hatte und du mitten in die Frühphase ihrer Affäre (aus der am Ende auch nichts wurde) hineingeplatzt bist, mit anderen Worten, du hattest die Reise zum falschen Zeitpunkt angetreten, und beim Abschied von den grünen windigen Hügeln
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