Winterjournal (German Edition)
von Sligo fragtest du dich, ob du deine Freundin jemals wiedersehen würdest. Du kamst in dein Zimmer zurück, in die Einsamkeit deines Zimmers, des kleinsten aller kleinen Zimmer, aus dem es dich zuweilen auf die Suche nach Prostituierten trieb, auch wenn es falsch wäre, zu behaupten, du seist dort unglücklich gewesen, denn du hattest kein Problem damit, dich auf diese reduzierten Umstände einzustellen, eher stärkte dich die Erfahrung, dass du fähig warst, mit nahezu nichts auszukommen, und dass es, solange du schreiben konntest, keine Rolle spielte, wo oder wie du wohntest. Während deiner Monate dort waren unmittelbar gegenüber deinem Haus Tag für Tag Bauarbeiten für eine vier- oder fünfstöckige Tiefgarage im Gange. Wann immer du nachts ans Fenster gingst und auf die ausgeschachtete Erde hinabschautest, auf das gewaltige Loch im Boden unter dir, sahst du Ratten, Hunderte von nassen, schimmernden Ratten im Schlamm umherlaufen.
[ 12 .] 29 , rue Descartes; 5 . Arrondissement, Paris. Wieder eine Zweizimmerwohnung mit Essküche, im vierten Stock eines sechsstöckigen Gebäudes. Alter: 26 . Eine Reihe gutbezahlter Jobs hatte dir aus dem Gröbsten herausgeholfen, und du konntest es dir leisten, eine eigene Wohnung zu mieten. Deine Freundin war aus Sligo zurück, der Ire hatte ausgedient, und ihr zwei fasstet wieder einmal den Entschluss, euch zusammenzutun und es ein weiteres Mal miteinander zu versuchen. Diesmal ging es ziemlich gut, nicht ohne einige Erschütterungen, mag sein, aber die ließen sich aushalten, niemand drohte mehr, den anderen zu verlassen. Die Wohnung in der rue Descartes 29 war sicher die freundlichste deiner Pariser Behausungen. Sogar die Concierge war freundlich (eine hübsche junge Frau mit kurzen blonden Haaren, verheiratet mit einem Polizisten, stets mit einem Lächeln und einem freundlichen Wort auf den Lippen, ganz anders als die herumschnüffelnden, schlechtgelaunten alten Weiber, die traditionell in Pariser Wohngebäuden das Zepter schwangen), und du warst froh, in diesem Teil der Stadt zu leben, mitten im alten Quartier Latin, nur ein Stück den Hügel hinauf von der place de la Contrescarpe mit ihren Cafés und Restaurants und dem lebhaften, lärmenden, theatralischen Straßenmarkt. Aber mit den guten freiberuflichen Jobs des vergangenen Jahres war Schluss, und wieder einmal gingen deine Mittel zur Neige. Du nahmst an, noch bis Ende des Sommers durchhalten zu können und dann deine Sachen packen und nach New York zurückkehren zu müssen. Aber schließlich kam es in letzter Minute zu einer unverhofften Verlängerung deines Aufenthalts in Frankreich.
[ 13 .] Saint Martin; Moissac-Bellevue, Var. Ein Bauernhaus im Südosten der Provence. Zweigeschossig, ungeheuer dicke Steinmauern, rotes Ziegeldach, dunkelgrüne Fensterläden und Türen, umgeben von etlichen Hektar Land, mit einem Nationalwald auf der einen Seite und einem Feldweg auf der anderen: mitten im Nirgendwo. In einen Stein über der Haustür stand gemeißelt
L’An
VI
– Jahr sechs –, und wenn deine Vermutung stimmte, dass damit das sechste Jahr der Revolution gemeint war, müsste das Haus 1794 oder 1795 gebaut worden sein. Alter: 26 bis 27 . Du und deine Freundin lebtet dort neun Monate lang als Betreuer dieses entlegenen südlichen Anwesens, nämlich von Anfang September 1973 bis Ende Mai 1974 , und magst du auch schon über einige Ereignisse in diesem Haus geschrieben haben (
Das rote Notizbuch
, Geschichte Nr. 2 ), so hast du auf diesen sieben Seiten doch manches verschwiegen. Wenn du jetzt an die Zeit denkst, die du in diesem Teil der Welt verbracht hast, fällt dir als Erstes die Luft ein, die Düfte von Thymian und Lavendel, die um dich aufstiegen, wann immer du über die an das Haus grenzenden Felder gingst, die wohlriechende Luft, die muskulöse Luft, wenn es windig war, die schläfrige Luft, wenn die Sonne ins Tal sank und Eidechsen und Salamander aus Ritzen zwischen den Steinen krochen, um in der Hitze zu dösen, und dann die Trockenheit, die Rauheit des Landes, die grauen geschmolzenen Felsen, die kalkweiße Erde, die rote Erde an manchen Wegen und Straßen, die Pillendreher, die im Wald ihre mächtigen Dungkugeln vor sich herrollten, die Elstern, die über die Felder und Weingärten jagten, die Schafherden, die über die Wiese hinterm Haus zogen, das plötzliche Auftauchen von Schafen, von Hunderten zusammengedrängter Schafe, die unterm Rasseln ihrer Glöckchen vorüberzogen, die Gewalt der Mistrals,
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