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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Stadt galt, lag an der unterschwelligen Gewalt, die dort herrschte, an den Repressalien, den Sitten und Gebräuchen der Mafia. Schwarze hielten sich von dieser gutbewachten Enklave tunlichst fern, sie wussten, es wurde gefährlich für sie, wenn sie die Grenze überschritten, denn es gab da ein ungeschriebenes Gesetz, das dir vielleicht unbemerkt geblieben wäre, hättest du nicht mit eigenen Augen gesehen, wie es vollzogen wurde, als du eines strahlenden Herbstnachmittags durch die Court Street gingst und auf der anderen Straßenseite ein schlaksiger schwarzer Junge mit einem Ghettoblaster von drei oder vier weißen Teenagern angefallen wurde, die ihn blutig schlugen und sein Radio auf dem Bürgersteig zertrümmerten, und ehe du einschreiten konntest, taumelte der Schwarze weg, stolperte los und begann schließlich zu laufen, während die Weißen ihm
Nigger
nachbrüllten und schrien, er solle sich hier nie wieder blickenlassen. Ein anderes Mal hattest du eine Chance, einzuschreiten. Ein Sonntagnachmittag im Spätfrühling, auf dem Weg zur Subway an der Smith Street machtest du am Carroll Park für ein paar Minuten halt, um den Jungen dort auf dem Asphalt beim Rollhockey zuzusehen, und da erblicktest du an dem Maschendraht, der den Park umzäunte, eine große rot-weiß-schwarze Naziflagge. Du gingst in den Park, machtest den Sechzehnjährigen ausfindig, der sie aufgehängt hatte (es war der Zeugwart einer der beiden Mannschaften), und sagtest ihm, er solle sie herunternehmen. Verblüfft, völlig ahnungslos, warum du das von ihm verlangtest, hörte er sich deine Erklärung an, wofür diese Fahne stand, und als er dich von Hitlers Gräueltaten und der Ermordung Millionen unschuldiger Menschen reden hörte, machte er ein betretenes Gesicht. «Das habe ich nicht gewusst», sagte er. «Ich fand, das sah einfach cool aus.» Statt ihn zu fragen, auf welchem Planeten er aufgewachsen sei, hast du gewartet, bis er die Flagge entfernt hatte, und bist dann zur Subway weitergegangen. Dennoch, Carroll Gardens hatte auch seine Vorzüge, insbesondere, wenn es ums Essen ging, die Bäckereien, die Metzgereien, der Wassermelonenverkäufer, der im Sommer mit seinem Pferdekarren durch das Viertel fuhr, der frisch geröstete Kaffee bei D’Amico und die herben, wunderbaren Gerüche, die dir beim Betreten dieses Geschäfts entgegenschlugen, aber Carroll Gardens war auch der Ort, an dem du die allerdümmste Frage deines Lebens gestellt hast. Eines Nachmittags sitzt du in deinem fensterlosen Arbeitszimmer und arbeitest am zweiten Teil von
Die Erfindung der Einsamkeit
, als sich unten auf der Straße ein lautes Geschrei erhebt. Du gehst runter, um nachzusehen, was da läuft, und draußen hat sich der ganze Block versammelt, Gruppen von Männern und Frauen stehen vor ihren Häusern, zwanzig erregte Debatten werden zugleich geführt, und dein Vermieter, der stämmige John Caramello, hockt auf den Stufen eures Hauses und blickt ruhig über das Getümmel hin. Du fragst, was los ist, und er erzählt dir, ein kürzlich aus dem Gefängnis entlassener Mann sei hier in Häuser und Wohnungen eingebrochen und habe dort alles Mögliche gestohlen – Schmuck, Silberbesteck, alles Wertvolle, was er in die Finger bekam –, aber man habe ihn geschnappt, bevor er sich verdrücken konnte. Und jetzt kommt deine Frage, die berühmten Worte, mit denen du dich zum ausgemachten Einfaltspinsel stempelst, der immer noch nichts von der kleinen Welt begriffen hat, in der er lebt. «Haben Sie die Polizei gerufen?» John lächelt. «Natürlich nicht», sagt er. «Die Jungs haben ihn windelweich geprügelt, ihm mit Baseballschlägern die Beine gebrochen und ihn in ein Taxi geworfen. Er wird sich hier nicht mehr blickenlassen, wenn ihm sein Leben lieb ist.» So viel zu deiner Frühzeit in Brooklyn, wo du jetzt seit einunddreißig Jahren lebst, und in dieser Übergangsphase deines Lebens, die mit dem Ende deiner Ehe und dem Tod deines Vaters begann, gefolgt von den neun Monaten in der Varick Street und den ersten elf Monaten in Carroll Gardens, einer Zeit, die von Albträumen und inneren Kämpfen geprägt war, in der du zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit geschwankt hast, mit etlichen Frauen ins Bett gestolpert bist, Frauen, die zu lieben du versucht hast, ohne es je ganz zu schaffen, überzeugt, nie wieder zu heiraten, an deinem Buch und an deinen Joubert- und Mallarmé-Übersetzungen gearbeitet hast, an deiner Mammutanthologie französischer Dichtung des

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